Das Sakrament
gesehen?«
»Die Schiffe?«
»Die Flotte des Großtürken.«
Orlandu erinnerte sich an die Kanonenschüsse im Morgengrauen, an die Aufregung auf den Straßen. Doch er war so besessen davon gewesen, den Hund zu fangen, daß er den Grund für diesen Alarm vergessen hatte. Er schüttelte den Kopf. »Nein, Pater, aber ich würde sie gerne sehen.«
Lazaro führte Orlandu die Treppe hinauf auf das Dach derHerberge. Von dort konnte Orlandu über die Sandsteinhäuser und die Bucht von Kalkara hinweg auf den Galgen sehen und weiter auf das offene Meer hinaus. Das strahlendblaue Wasser war mit einem seltsamen vielfarbigen Teppich bedeckt, der wie eine Fata Morgana in der Hitze flimmerte. Die äußerste Ecke säumte den Horizont, und der östliche Rand wurde vom Monte Salvatore verdeckt.
Orlandu blinzelte und begriff, daß dieser ungeheure Teppich aus Kriegsschiffen bestand. Die Sonne glitzerte auf vergoldeten Bugen und silbernen Beschlägen, und die Farben kamen von den leuchtendbunten Seidenzelten und außergewöhnlichen Fahnen und geblähten Segeln. In bedrohlicher Stille sah man unzählige Ruder, die sich hoben und senkten wie Flügelschläge. Die Schiffe waren in südlicher Richtung unterwegs. Es waren Hunderte. Hunderte? Orlandu rieb sich die Augen und schaute noch einmal hin. Die Flotte des Ordens bestand aus stolzen sieben Galeeren. Orlandu hatte sie für die mächtigste der Welt gehalten.
Er spürte, daß Lazaro ihn beobachtete. Einem Impuls folgend und durch die Geduld des alten Mannes ermutigt, fragte er: »Pater, ist das eine Traumwelt?«
Lazaro schaute ihn an, und seine wäßrigen Augen bekamen einen melancholischen Schimmer. Er antwortete: »Wenn wir ins himmlische Königreich kommen, wird es uns vielleicht so scheinen.«
M ONTAG , 21. M AI 1565
In der Herberge der englischen Zunge
Die Majistral-Straße war menschenleer.
Die ganze winzige Stadt schien den Atem anzuhalten. Die Frauen hatten im Inneren der Häuser Zuflucht vor der mörderischen Hitze gesucht und flüsterten vor ihren Ikonen und HeiligenbildernGebete. Eine ungute Vorahnung kroch wie Nebel in die Herberge der englischen Zunge und vertiefte Carlas niedergeschlagene Stimmung. Jede Untätigkeit ärgerte sie, und hier gab es keine dringenden Aufgaben, die sie beschäftigt hätten. Oliver Starkeys Vermutung stimmte: Sie war wirklich eine unnütze Esserin. Sie gesellte sich im ausgedörrten und überwucherten Garten zu Amparo und half ihr beim Jäten des Unkrauts. Um die Mittagsstunde erschien Mattias. Er trug einen geriffelten Küraß, eine Pistole und ein Schwert und hielt in der Linken eine Radschloßflinte. Unter den Arm hatte er noch eine Sturmhaube geklemmt.
»Der Türke steht vor dem Tor«, sagte er. »Die maltesische Ilias beginnt. Ich dachte, Ihr möchtet mir vielleicht Glück wünschen, ehe ich mich dazugeselle.«
Seit Carlas Rückkehr nach Malta hatte Birgu vor Erregung gekocht. Verzweiflung wetteiferte mit Jubel. Die Gefühle der Menschen wurden von den verschiedensten Gerüchten gebeutelt, die an jeder Straßenecke ausgetauscht wurden. Die Türken bewegten sich nach Süden. Die Türken zogen nach Norden. Wenn die Türken erst einmal die Befestigungsanlagen gesehen hatten, würden sie unverzüglich zum Goldenen Horn zurück fliehen. Die Türken waren bereits in Marsamxett gelandet. Die Türken würden die Inseln innerhalb einer Woche erobern. Angeblich waren überall Spione. Und Saboteure. Und Meuchelmörder, die den Großmeister in seinem Bett umbringen sollten. Wachen wurden auf den Sandsteinplatten postiert, mit denen die unterirdischen Getreidespeicher und Zisternen versiegelt waren. Die riesige, zweihundert Ellen lange Kette, welche die Einfahrt in die Werftbucht versperrte, wurde mit ihrer Winde vom Meeresboden hochgezogen. Türkische Galeeren streiften auf dem offenen Meer herum. Nun waren Birgu, L’Isla und St. Elmo vom Rest der Christenheit abgeschnitten.
Inmitten dieses Aufruhrs schienen Carlas eigene Sorgen wahrhaftig klein, und doch war dies das Land ihrer Geburt, wo sie auchihrem Sohn das Leben geschenkt hatte, und sie war überglücklich, wieder hierzusein. Unter den Städtern legten die Jungen die größte Begeisterung an den Tag. Sie rannten überall herum. Ihr Geplapper verstummte nur, wenn ein Ritter vorüberging. Sie inszenierten Zweikämpfe auf den Straßen, ließen sich anstecken von ihren Träumen von heroischen Opfern, in denen ihr eigener Heldentod das heroischste aller Ereignisse war. Die Hälfte lief
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