Das Sakrament
Schultern. Vielleicht würde La Valette in seine Richtung schauen und seine Wunden sehen und begreifen, daß Orlandu genau wie er Hunde getötet hatte, und wäre stolz auf ihn. Trotz seiner Jahre schritt La Valette geschmeidig wie ein Panther den Kai entlang, überragte die meisten um Haupteslänge. Die Menschenmenge teilte sich vor ihm. Seine schwarze Kutte wehte ihm um die Füße, und ein schlichter Dolch steckte in seinem Gürtel. Die Habichtaugen waren geradeaus gerichtet, beobachteten aber trotzdem alles. Ja, sicherlich nahm der Großmeister auch Orlandu wahr, selbst wenn er nicht in seine Richtung schaute.
La Valette hatte in siebenundachtzig Seeschlachten gefochten, manche behaupteten sogar in neunundachtzig. La Valette hatte eigenhändig tausend Türken niedergemetzelt. La Valette hatte die Galeerenbänke des grimmigen Abd-ur-Rahman und die schreckliche Belagerung von Rhodos überlebt. Damals mußten ihn seine Kameraden zu den Schiffen schleifen, weil er weiterkämpfen wollte, obwohl alles verloren war. Nicht einmal Kaiser Philipp im fernen Kastilien oder der Heilige Vater in Rom hatten La Valette umstimmen können. Seine Kampfrede, die er in der vergangenen Woche vor der maltesischen Miliz gehalten hatte, konnten die Jungen wie die Heilige Schrift auswendig herbeten:
»Heute steht euer Glaube auf dem Spiel. Die Schlacht, die um Malta toben wird, entscheidet, ob das Evangelium – die Worte und Taten Christi – dem Koran weichen muß. Gott hat uns aufgefordert, das Leben zu opfern, das wir ihm geweiht haben. Selig sind die, die für Seine heilige Sache sterben.«
Ein ungeheures Glücksgefühl durchströmte Orlandu. Wenn er zu Gott betete, dann sah Gott in seinen Augen wie La Valette aus.
Nun hieß La Valette die beiden unerschrockenen Abenteurer willkommen und begrüßte mit knapper, aber untadeliger Freundlichkeit die Frauen. Dann verwickelte er den Fremden mit derLöwenmähne sofort in ein Gespräch, und die beiden gingen zusammen über den Kai in Richtung Castel St. Angelo. Sie kamen kaum zehn Schritte von Orlandu entfernt vorbei, und der Junge hielt den Atem an. Während La Valette sprach und auf die verschiedenen Wahrzeichen deutete, warf der Fremde einen kurzen Blick auf den Kai und auf die Stauer, und plötzlich spürte Orlandu, wie die leuchtendblauen Augen ihn durchbohrten. Er geriet beinahe ins Wanken, als hätte ihn jemand angestoßen, doch er hielt stand, und die blauen Augen wandten sich wieder ab.
Als die beiden Frauen vorübergingen, schenkte Orlandu der älteren und königlicheren nur wenig Beachtung. Sie hatte ihr Gesicht im Gespräch Oliver Starkey zugewandt. Das Mädchen jedoch, das den goldenen Hengst am Zügel führte, starrte ihn mit einem Gesichtsausdruck an, aus dem er nicht schlau wurde. Ihr Gesicht war schief und seltsam, und er überlegte, ob sie die Macht hätte, ihn zu verfluchen, denn sie schaute ihn auch noch über die Schulter an, als sie bereits vorüber war. Orlandu schrieb ihr Interesse seinem seltsamen Aufzug zu. Er hoffte, daß sein blutrünstiges Äußeres den blauäugigen Fremden beeindruckt hatte. Der stiernackige Schlägertyp, der am Schluß der Gruppe kam, nickte den Arbeitern freundlich zu, als wären sie alle nur angetreten, um ihn willkommen zu heißen. Als er Orlandu sah, lachte er und senkte zum Salut den langen Lauf seiner Muskete. Orlandu strahlte vor Stolz. Was für ein Tag! Was für Männer!
»Traumwelt! Aha! Aha! Ja!«
Orlandu wandte sich wieder Omar zu. Der Karagiozi entblößte wieder seinen zahnlosen Kiefer und trat von einem Fuß auf den anderen, als hätte er höchstpersönlich diese Ereignisse dirigiert wie die Schattenfiguren in seinen Theaterstücken.
»Ja«, stimmte ihm Orlandu zu, ohne zu begreifen, was der alte Mann meinte. »Eine Traumwelt.« Er sah sein Messer auf dem Kopfsteinpflaster liegen und hob es auf. »Danke.« Er neigte den Kopf. »Ich muß jetzt gehen.«
Omar bewegte seine Finger wie eine Spinne. »Der weiße Dschin! Ja!« Er bellte zweimal und jaulte.
Orlandu nickte. »Ja. Jetzt muß ich gehen.« Er machte sich auf.
»Der Garten des –« Omar war mit seinem Maltesisch am Ende, aber wie viele Anwohner des Großhafens hatte er Bruchstücke aus einem guten Dutzend Sprachen im Kopf. Birgu war ein wahres Babel. Omars Hand bewegte sich in Wellenbewegungen nach oben, um das Wachstum von Pflanzen anzudeuten, dann spielte er, daß jemand etwas trank und das Gesicht schmerzlich verzog, als hätte das Getränk bitter geschmeckt.
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