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Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Titel: Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas R. P. Mielke
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Dach der Kathedrale das Bild des Mondes vielhundertfach auf ein riesiges, aus feinen Wollfasern gewebtes Netz warfen, hatte Agnes gesehen, wie sich das fremde Mädchen plötzlich auszog.
    Für einen Augenblick war sie wie verzaubert vom Anblick des nackten Mädchens im Mondlicht gewesen. Ihr Körper glich den Marmor-Statuen zwischen den Säulen der Kathedrale, bei denen nur ein leichter, in glatten Stein geschliffener Faltenfall die Grenze zwischen Keuschheit und Lust verdeckte ...
    Agnes hatte noch nie ein schöneres Mädchen gesehen. Als sie an ihr vorbeigegangen war, hatte sie die Bankert erkannt. Sie hieß Nancy. Vorsichtig war sie hinter ihr hergegangen, bis sie im Buch-Heim verschwand.
    Noch immer überlegte Agnes, wie es dem fremden Mädchen gelungen war, die verbotene Tür zu öffnen. Keines der Schander- Mädchen wäre auch nur auf den Gedanken gekommen, das zu versuchen!
    Sie ging durch die Gärten von Wirnt und Heinrich oberhalb der Straße. Die schmalen Familienbesitze waren nur durch Wegstreifen voneinander getrennt.
    Als sie den Garten von Meister Lamprecht erreichte, hörte sie plötzlich eine flüsternde Stimme aus den dunklen Sträuchern.
    »Komm hierher, Agnes!«
    Sie verharrte mitten in der Bewegung. Ihr Herz klopfte bis zum Hals.
    »Wer ist da?« fragte sie. Ihre Stimme zitterte.
    »Kennst du mich nicht?«
    »Ich kann dich nicht sehen ...«
    Irgend jemand lachte höhnisch. Es kam aus einer Buschgruppe weiter oben.
    »Ich bin es - Hanns!«
    »Nein, ich bin Hanns!« protestierte die untere Stimme.
    Agnes wußte nicht, was sie glauben sollte. Das Licht der Monde wurde langsam schwächer. Sie konnte kaum noch etwas erkennen.
    »Ich weiß, wo Guntram ist«, lockte die obere Stimme aus den schwarzen Büschen.
    »Laß dich nicht einfangen!« warnte die untere Stimme. »Er ist von Corvay ausgeschickt, um deinen Bruder zu finden ...«
    »Gut gesprochen, Lello«, flüsterte die obere Stimme. »Du bist kein Narr, nein, nein ...«
    »Glaub ihm nicht, Agnes! Er ist Lello!«
    »Warum versteckt ihr euch?« rief Agnes halblaut.
    »Wenn wir uns beide zeigen, wird einer von uns sterben.«
    Das war die untere Stimme. Im gleichen Augenblick wußte Agnes, daß sie nicht Hanns gehören konnte. Er hätte nie so etwas gesagt. Das mußte Lello, der Narr von König Corvay, sein. Sie wich langsam nach oben aus. Der Untere versperrte den Weg zum Haus von Meister Lamprecht. Sie konnte nicht an ihm vorbei.
    Erst als zwei zuckende Arme aus dem oberen Gebüsch kamen, merkte sie, wie sehr sie sich geirrt hatte. Sie konnte nicht mehr schreien. Lello hielt ihr den Mund zu und schleifte sie höher. Er hatte zwar nicht Guntram gefunden, aber wenigstens seine Schwester, die mit ihm geflohen war ...
    *
    Das Labyrinth in der Teufelsmauer war noch geheimnisvoller und komplizierter angelegt als die verborgenen Gänge, Wendeltreppen und Galerien in den Seitenmauern der Kathedrale.
    Stundenlang irrte Guntram durch sternförmig nach allen Seiten auseinanderlaufende Gänge. Er kletterte über schräge Ebenen, kam wieder an den Ausgangspunkt zurück und versuchte es erneut. Die ganze Zeit war immer gerade soviel Licht vorhanden, daß er Stufen und Stege in einem düsteren Dämmerschein erkennen konnte.
    Er merkte, wie er nach und nach seine letzten Kraftreserven verlor. Wenn er an diesem Tag nicht gegessen und getrunken hätte, wäre er schon nach kurzer Zeit zusammengebrochen.
    Längst schalt er sich einen Toren, weil er gewagt hatte, in verbotenes Gebiet vorzudringen. Mit jedem taumelnden Schritt verstand er besser, woher die Teufelsmauer ihren furchterweckenden Namen erhalten hatte.
    Die Wege und Gänge waren wie ein magischer Irrgarten angelegt. Einmal als er glaubte, im nördlichen Teil zu sein, stieß er gegen eine Gruppe von starren, lederartigen Mumien.
    Er schrak zurück. Die Gruppe sah wie eine Familie aus, die sich hingesetzt hatte, um gemeinsam zu sterben. Einige hielten sich noch an den Händen.
    Er brauchte eine Weile, bis er die Kraft fand, den grausigen Ort zu verlassen. Trotzdem hatte er sofort gesehen, daß die Mumien viel größer waren als er. Er wußte nicht, wer sie waren, aber einige der vertrockneten Gesichter hatten ihn an Mitglieder seiner eigenen Familie erinnert.
    Wann waren sie anderthalb Ellen groß gewesen?
    Während er weiterhastete, rechnete er aus, daß die Unglücklichen etwa zur Zeit der Rebellion nach der Periode von Glück und Frieden gestorben sein mußten, also Ende des achtzehnten Jahrhunderts.
    Und

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