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Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Titel: Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas R. P. Mielke
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dafür, daß es eine Nancy McGowan gab, die nicht einmal die Größe eines Neugeborenen erreicht hatte. In diesem Augenblick löste sich Nancy von dem Komplex, der sie ihr ganzes bisheriges Leben begleitet hatte.
    Sie trank das Licht der silbernen Monde und stillte ihren Hunger nach Harmonie, indem sie sich ganz langsam auszog und ihren Körper dem Licht der silbernen Monde darbot.
    Die Monde antworteten. Sie nahmen das Geschenk an. Wie in den raunenden Nächten der Sommersonnenwende und der Johannisnacht verschmolzen silberne Sicheln am Himmel zu neuen Konstellationen.
    Nackt, wie sie war, schritt Nancy über den steinigen Weg nach unten. Die Monde wiesen ihr den Weg zum Turm der Logenmeister. Sie sah nichts von den Schatten, die durch die Büsche rechts und links des Baches huschten. Sie hörte keine Stimmen flüstern und achtete nicht auf den gelben Schein von Lagerfeuern hinter dem Wald im Westen des Sakriversums.
    Oberhalb des großen Hauses wiesen die Monde sie an, zu warten. Sie blieb stehen und lauschte den alten Melodien, die nicht von außen kamen, sondern aus ihr selbst. Zum erstenmal in ihrem Leben war sie glücklich. Wenn dies das Leben im Sakriversum war, wollte sie kein anderes Paradies mehr sehen. Sie ging um das große, massive Haus herum und durch den Garten zur Straße. Dort wandte sie sich nach Osten und ging zur Brücke, von der aus ein schmaler Steg zur Tür im Turm führte.
    Die hohe Tür war nicht für Menschen wie sie gemacht. Doch dann entdeckte sie einen kleineren Eingang. Er lag im Schatten, aber sie fühlte, daß die Monde nichts dagegen hatten, wenn sie hineinging.
    Und so betrat nach vielen hundert Jahren wieder ein Mädchen, eine junge Frau, den Turm der Logenmeister.
    *
    Die Abgesandten von Mathilda und den Clan-Chefs hatten sich heimlich vom Lager unter dem Abendzeichen entfernt. Sie waren auf geheimen Wegen am Rand des Irrlichtmoors nach Osten vorgedrungen. Erst als die letzten Bankerts schwerbeladen das Dorf verließen, gab Ulf die Anweisung, weiter aufzusteigen.
    Sie brauchten Heilkräuter.
    Vorsichtig gingen sie um den See herum. Sie stiegen den ausgetrockneten Bach entlang höher. Nur wenig Wasser stand in dunklen, faulig riechenden Lachen vor halbhohen Staustufen, die wie eine flache Treppe in einem Hohlweg wirkten.
    An der Linde unterhalb der Straße machten sie halt. Im gleichen Augenblick sahen sie das erste Zeichen der Zerstörung. Dort, wo seit Jahrhunderten die steinerne Figur des Kathedralenbaumeisters im Gras gestanden hatte, lagen jetzt nur noch Trümmer.
    »Aber das ist doch unmöglich!« stieß Dietleib erschrocken hervor. »Wie konnten diese Barbaren in so kurzer Zeit ...«
    »Das waren nicht die Wasserholer«, sagte Ulf, während er die Bruchstücke untersuchte. »Hier hat sich jemand sehr viel Mühe gemacht! Wahrscheinlich auf der Suche nach irgendeinem Hohlraum ...«
    Im gleichen Moment stieß Hanns einen unterdrückten Schrei aus. Er war einige Schritte bis zur Straße gegangen. Von der Brücke über den Bach konnte er die Häuser am Ostende des Dorfes sehen.
    Ulf und Dietleib liefen geduckt zu ihm.
    »Unser Haus!« stammelte Hanns entsetzt. »Unser Haus ist nicht mehr da ... und Friedrichs auch nicht ...«
    Jetzt sahen auch seine Brüder die Ruinen. Die schwarzen Balken wirkten im Mondschein wie Skelette großer Tiere.
    »Mein Gott!«
    »Still!« zischte Ulf. Er zog seine Brüder in den Schatten der Brücke über die Dorfstraße. Weiter oben schlurfte und scharrte etwas.
    »Vielleicht ein Tier der Weltlichen !« flüsterte Hanns. Ulf schüttelte den Kopf.
    »Die Luken sind seit Wochen geschlossen!«
    »Trotzdem könnten Tiere versucht haben, rechtzeitig in die Kathedrale zu fliehen! Wir waren doch auch durch viele Zeichen gewarnt ...«
    »Das ist etwas anderes«, sagte Ulf leise. Er war dankbar, daß er seine jüngeren Brüder von den traurigen Gedanken an ihr zerstörtes Haus ablenken konnte. Denn eigentlich war er nach Meister Wolframs Tod der Älteste des Alchimisten-Clans.
    Ein Eingeweihter, der nicht Logenmeister sein durfte, weil er sich für eine Frau entschieden hatte, die nicht wirklich zu ihnen gehörte ...
    »Das Sakriversum war von Anfang an viel empfindlicher als die übrige Welt«, fuhr er fort. »Ihr wißt doch, wie wir auf jeden Luftzug der durchsichtigen Windflügel unter dem Dachfirst geachtet haben. Wir konnten nie Tag und Nacht oder die Jahreszeiten beeinflussen. Aber wir durften wählen, ob wir Sonne, Regen, Wind und Schnee von draußen

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