Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
Dienststiefel mit vorgeschriebenen Schutzkappen angezogen und sich aus den bescheidenen Vorräten im Ruheraum etwas zu essen gemacht.
Dann war er nach oben gegangen und hatte sich an ein Fenster gesetzt. Bis die silberne Sichel des Mondes aufging, hatte er über verschiedene Dinge nachgedacht. Nach langer Zeit rauchte er wieder ein Zigarillo. Es war verboten, aber jetzt gab es niemanden mehr, der ihm Vorschriften machen konnte ...
In satter Müdigkeit genoß er die verzaubert wirkende Stille. Von seinem Fenster aus konnte er die Fenster, Pfeiler und Türmchen der Kathedrale sehen. Obwohl er sich eigentlich mit der Stadt beschäftigen mußte, kreisten seine Gedanken immer wieder um die Geschehnisse in diesem gewaltigen, geheimnisvollen Bauwerk.
Seit er das Motorradgeräusch gehört hatte, war er sicher, daß es noch andere Menschen außer ihm geben mußte. Er nippte an einem Glas eiskalten Wodka. Die Setzer im Verlag hatten es mit den Vorschriften der Vorsorglichen Behütung nicht immer sehr genau genommen. Jetzt war er ihnen dankbar dafür ...
Die Vorgänge in der Stadt waren ihm einigermaßen verständlich. Nachdem er das Kontrollpult der Wasserwerke abgestellt hatte, war kein Frischwasser mehr aus den Leitungen gekommen. Das restliche Wasser war über natürliches Gefälle abgeflossen.
Was ihn viel mehr beschäftigte, war jene flüchtige Begegnung im Südturm der Kathedrale. Von dort mußte auch das Motorradgeräusch gekommen sein. Doch um ein Motorrad in einen Kathedralenturm zu bringen, bedurfte es geradezu artistischer Fähigkeiten.
Artisten!
Goetz zuckte zusammen. Er merkte, wie zwei Puzzlestücke zusammenklickten.
Die kleinen Menschen!
Erregt sprang er auf. Er stellte das Wodkaglas achtlos beiseite und lief ins Archiv. Obwohl in der Nacht der Katastrophe gearbeitet worden war, entdeckte er keine Toten im Archiv.
Er setzte sich vor einen Bildschirm und schaltete die Stromversorgung ein. Wieder dankte er seinem Schöpfer, daß er eine vom Netz unabhängige Energieversorgung für den Verlag durchgesetzt hatte. Abgesehen davon wäre die öffentliche Stromversorgung für die Druckmaschinen längst vom KVE Kontrollverbund Energie verboten worden! Bibliophile Kostbarkeiten, Adelskalender und eine Zeitung für gute Nachrichten hatten nicht den geringsten Stellenwert bei den Energieverwaltern gehabt.
Über einen Suchbaum auf dem Bildschirm tastete sich Goetz an verschiedene Stichworte heran, aus denen ihm der Archiv-Computer eine Antwort geben sollte.
Zuerst war es nicht ganz einfach. Er hatte keine große Übung im Bedienen von Keyboards für Daten-Verarbeitungsanlagen. Er fand eine Fülle von Informationen über die Zirkus-Geschichte, über die Motorrad-Kultur zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, über waghalsige Rekorde und über kleinwüchsige Menschen.
Allein der letzte Bereich war bereits so umfassend, daß er Wochen brauchen würde, um sich über alle damit zusammenhängenden Fragen in medizinischer, völkerkundlicher und soziologischer Hinsicht zu informieren. Und dann war da noch der kaum überschaubare Bereich der Sagen, Mythen und Legenden ...
Goetz wollte bereits aufgeben, als er auf eine andere Idee kam. Er änderte die Such-Stichworte auf dem Bildschirm und beschränkte sich auf die Nachrichten-Analyse der letzten drei Monate vor der Katastrophe:
SUCHWORT: ZWERGE (ALLE BEGRIFFE)
BEREICH: WELTWEIT (SCHWERPUNKT EUROPA)
ANLASS: AKTIONEN UND/ODER AUFTRITTE
SUB-THEMA: KURIOSITÄTEN
FEHLER-KOMMENTAR: JA.
Er drückte auf die START-Taste und lehnte sich zurück. Es würde eine ganze Weile dauern! Er steckte sich ein neues Zigarillo an. Nacheinander prüfte die Elektronik die unterschiedlichsten Kommunikationsbereiche. Jedes Wort, das in den vergangenen fünf Monaten vor oder nach der Katastrophe über Satelliten-Sender gesprochen worden war, wurde analysiert.
Es begann mit den offiziellen Programmen, wobei sich die Suche auf Nachrichten und Kommentare beschränkte.
NEGATIV
Danach kamen die Privatsender.
NEGATIV
Nachrichtenagenturen.
NEGATIV
Bildschirmtext. AV-Programme. Kabel-TV. Überall das gleiche, entmutigende Ergebnis! Kein Mensch hatte in den vergangenen Monaten irgend etwas über kleine Menschen gesagt! Jedenfalls nicht in den erfaßten Nachrichten und Kommentaren ...
FEHLER-KOMMENTAR?
Goetz nickte müde. Er drückte auf die entsprechende Taste. Im gleichen Augenblick hatte er es. Die Zeilen auf dem Bildschirm verschoben sich und bauten sich neu auf. Diesmal fehlte die
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