Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
annehmen wollten oder nicht. Wir haben jeden Wassertropfen in den Zisternen aufgehoben und nie etwas verschwendet. Wenn unsere Frauen die Spinnräder drehten, haben sie gleichzeitig die Batterien aufgeladen. Mit ihrer Kraft konnten wir Metalle scheiden, Salze destillieren und gefrorene Luft erzeugen. Was die Familie der Sammler in dunklen Neumondnächten aus den Fugen und Rinnen des äußeren Dachs holte, war jedesmal ein reicher Fischzug, aus dem im Kompostanger fast jedes Element gewonnen werden konnte. Aber es war auch gefährlich, denn in den letzten Jahren war oft mehr Gift im Sammelgut, als es wir selbst, die Tiere und die Pflanzen vertragen hätten ...«
»War das der Grund dafür, daß Meister Wolfram immer öfter Transmutationen der Quintessenz durchführen mußte?« fragte Dietleib.
Ulf nickte.
»Der Überfluß der Weltlichen wehte mit Wind und Regen bis zum Dach. Aber es wurde immer schwieriger, die neuen Gifte von den nützlichen Funden zu trennen.«
»Vielleicht ist Meister Wolfram davon krank geworden«, überlegte Hanns. »Sonst hätte er doch niemals aufgeben wollen - nach siebenhundert Jahren ...«
Sie hörten wieder das Scharren auf der Straße. Für eine Weile bewegten sie sich nicht, dann kroch Ulf vorsichtig höher. Er sah einen taumelnden Bankert im Vorgarten der Winzerfamilie. Der Fremde schleifte einen Sack Trockenfrüchte hinter sich her.
Ulf glitt unter die Brücke zurück.
»Es sind noch Bankerts im Dorf. Mindestens einer von ihnen hat zuviel Wein getrunken ...«
»Zum erstenmal in meinem Leben verspüre ich den Wunsch zu kämpfen!« preßte Hanns hervor.
»Das ist nicht unsere Art«, sagte Dietleib kopfschüttelnd.
»Im offenen Widerstand hätten wir keine Chance«, meinte Ulf zustimmend. »Aber es gibt noch eine andere Möglichkeit! Habt ihr bemerkt, wie furchtsam sie bei Dingen werden, die sie nicht verstehen? Einige glauben, daß die Clan-Chefs Magier sind und sich auf Zauberei verstehen. Vielleicht sind das die Waffen, mit denen wir sie bezwingen können ...«
Im gleichen Augenblick schwirrte etwas durch die Büsche am Bachufer. Ulf fühlte einen harten Schmerz an der Schläfe. Er warf die Arme hoch, dann sank er zwischen Hanns und Dietleib zu Boden.
Die Brüder waren so verwirrt, daß sie zuerst nicht verstanden, was geschehen war. Erst als ein zweiter Stein gegen den Brückenbogen schlug, begriff Dietleib.
»Sie haben uns entdeckt! Schnell, weg hier!«
»Und Ulf?«
»Ich hole Kräuter. Wir treffen uns auf der anderen Seite der Brücke, direkt am Buch-Heim! «
Dietleib wartete die Antwort von Hanns nicht ab. Er duckte sich, spähte über die leere, mondhelle Dorfstraße und lief los. Mit einem Satz war er auf der anderen Seite des Bachs. Er rannte die Böschung hoch und hielt sich im Schatten der Büsche. Nur wenig später erreichte er den verwüsteten Vorgarten des Hauses, in dem er aufgewachsen war.
Er huschte an den eingestürzten Mauern vorbei zu Leas Kräutergarten. Das Licht der Monde reichte aus, um Schafgarbe, Kriechenden Günsel, Tausendgüldenkraut, Vogelknöterich, Besenrauke und Mädesüß einzusammeln.
Hastig wusch er die Kräuter in einem Tontopf am Brunnen. Zum Schluß zerrieb er noch etwas Kamille mit den Fingern und füllte einen zweiten Topf mit Wasser.
Vorsichtig schlich er sich durch die oberen Gärten bis zum Gemäuer des Buch-Heims zurück. Hanns war nicht da. Dietleib wartete einen Augenblick lang, dann kroch er unter dem Brückenbogen am Bachbett entlang zur anderen Seite.
Ulf lag noch immer auf dem Rücken. Dietleib zog ihn zur Seite. Er wusch die Stirnwunde aus, trug etwas Kräuterbrei auf und verband Ulfs Kopf mit einem Streifen seines Blusenkittels.
Die ganze Zeit hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden. Ab und zu raschelte und knackte es in den Büschen. Es konnten Tiere aus dem Dorf sein - aber auch Bankerts ...
Er hob Ulf auf die Schultern. Schritt für Schritt trug er ihn am Bach entlang abwärts. Er erreichte unbehelligt den See, ging um ihn herum und begann mit dem Abstieg zum Irrlichtmoor.
Je tiefer er kam, desto dunkler wurde es.
*
Zur gleichen Zeit kehrte Agnes zum Haus von Meister Lamprecht zurück. Sie war noch einmal bis zu den Rebstöcken gegangen. Jetzt hoffte sie, daß Guntram inzwischen wiedergekommen war.
Sie wußte, daß sich noch immer einige Bankerts im Dorf aufhielten. Als die Monde aufgingen, hatte sie gesehen, wie ein Bankerts -Mädchen von der Teufelsmauer gekommen war. Während die Beryllos-Linsen im
Weitere Kostenlose Bücher