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Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Titel: Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas R. P. Mielke
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den VOBs in Konflikt geraten war, hatte er sich peinlich genau an die Sicherheitsvorschriften gehalten. Jede verschlossene Tür bildete einen unnötigen Verzögerungsfaktor im Behütungs- Fall.
    Er ließ die Tür offen. Sonnenlicht flutete durch schräge, dreifach isolierte Sicherheitsfenster. Sie hatten standgehalten. Linkerhand ragte ein aus hellen Hölzern gebautes Bücherregal bis zum schwebenden Schlaftrakt. Die meisten Bücher waren elektronische Faksimilie-Nachdrucke, während das Regal als Erbstück beim KVE Kontrollverbund Energie registriert war.
    Fast alle anderen Möbelstücke in der Mansarde bestanden aus Rezyk-Schlacke, einem undefinierbaren grauen Restmaterial der Müllverwertung.
    Goetz ging wieder zur Tür und schloß sie. Als er sich umdrehte, bemerkte er, daß seine Anti-Smog-Filteranlage weit mehr Energie verbraucht hatte als zulässig. Ähnlich wie im Keller des Verlagshauses zeigten Meßskalen erschreckende Werte. Er konnte nicht hierbleiben. Selbst seinen Wunsch, einige liebgewordene Gegenstände mitzunehmen, mußte er aufgeben. Sie waren zu stark strahlenverseucht.
    Er ging noch einmal durch die kleine Mansarde, sah sich alles an, berührte aber nichts. Für lange Zeit würde er nicht mehr hierher kommen. Er öffnete noch einmal die Tür und lief nach unten. Unwillkürlich wischte er sich die Hände an seinen feuchten Hosen ab.
    Er dachte darüber nach, wie er bis zum Verlagshaus kommen sollte. Er hatte kein Boot mehr, aber unten in den Kellerverschlägen mußte noch eine Sitzbadewanne liegen, die aus der Zeit vor dem Hausbadeverbot stammte.
    Er erreichte die Diele. Erst jetzt fiel ihm auf, daß die Haustür halb offen stand. Eher zufällig sah er hinaus auf die Straße. Im gleichen Augenblick blieb er stehen. Vorsichtig zog er die Haustür ganz auf.
    Ungläubig starrte er in die schmale Gasse. Das Wasser war weg! Nur noch dünne, schlammige Rinnsale flössen in die Gullis. An einigen Stellen war das Pflaster vor eingestürzten Fassaden aufgebrochen. Einige hundert Meter weiter oben mußte er mit seinem Beichtstuhl in ein Haus gerast sein. Aber das Wichtigste war, daß er jetzt zu Fuß weiterkommen konnte!
    Er genoß die abendliche Stille, als plötzlich vollkommen unerwartet ein fernes Geräusch das Blut in seinen Adern gefrieren ließ. Es kam von dort, wo die Kathedrale stand, und hörte sich an wie das Knattern eines Motorrades ...
    *
    Mondnächte gehörten zu den schönsten und eindrucksvollsten Stimmungen im Sakriversum. Nancy McGowan hatte etwas so Wunderbares noch nie gesehen.
    Sie hatte gewartet, bis es ganz dunkel geworden war, ehe sie wagte, aus ihrem Versteck zu kriechen. Der Hunger und der Durst waren so unerträglich geworden, daß sie ihre Vorsicht beiseite lassen mußte ...
    Zuerst hatte sie nur das stille, in silbernem Licht schlafende Dorf gesehen. Schon dieser Anblick war so schön, daß sie beinahe weinen mußte. In ihrer Welt hatte es niemals einen derartig trunken machenden Frieden gegeben!
    Als sie weiterkroch, entdeckte sie die Monde. Im ersten Augenblick glaubte sie an eine Illusion, an Spiegelungen auf ihrer Netzhaut.
    Es war unfaßbar! Hunderte von schmalen, schrägen Mondsicheln standen in einer geheimnisvoll wirkenden Anordnung am Himmel. Sie bildeten Ornamente, die an Sternensagen und Legenden von der kosmischen Harmonie erinnerten.
    Nancy fühlte, wie uralte Erinnerungen in ihr aufklangen. Es war wie ein Déjà-vu-Erlebnis , dieses merkwürdige Gefühl, etwas zum erstenmal zu sehen und doch alles schon einmal erlebt zu haben ...
    Natürlich wußte sie, daß sie noch nie im Sakriversum gewesen war. Dafür hatte sie absolut sichere Beweise. Als einer der ersten Menschen, die nicht im herkömmlichen Sinn gezeugt worden waren, hatte sie nur ein Elternteil besessen: ihre Schwester-Mutter.
    Als Cloning-Experiment 2001/Sixty-six verfügte sie über Erbanlagen, die hundertprozentig denen ihrer Schwester-Mutter entsprachen. Es gab nur eine Möglichkeit: Was sie als Duplikat nicht erlebt haben konnte, mußte eine Erinnerung aus den Zellkernschleifen ihrer Schwester-Mutter sein.
    Im stillen, magisch wirkenden Licht der vielen Monde vergaß Nancy zum erstenmal ihren Zorn auf die Frau, von der sie abstammte. Sie verzieh ihr den Egoismus, daß sie von sich selbst eine Kopie hatte anfertigen lassen, die genauso weiterleben sollte, wenn sie einmal nicht mehr war. Und sie verzieh ihr, daß das Experiment anders abgelaufen war als vorgesehen.
    Ihre Schwester-Mutter konnte nichts

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