Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
wieder kam er in einen höhlenartigen Raum, von dem verschiedene Gänge nach allen Seiten führten. In der Mitte des Raumes befand sich ein Altarstein, in den er schon bei seinem zweiten Besuch mit einem Mörtelstück einen Kratzer geritzt hatte.
Er taumelte auf den Altarstein zu.
Sechs Striche! Schon sechsmal war er zur gleichen Stelle zurückgekehrt! Dabei hatte er bei jedem neuen Versuch eine ganz andere Richtung gewählt ...
Erschöpft ließ er sich vor dem Altarstein auf den Boden sinken.
Es hatte keinen Zweck! Er kam aus dem verhexten Irrgarten nicht mehr heraus!
Er schloß die Augen. Ob er auch eine Mumie würde, wenn er jetzt einfach sitzenblieb und für immer einschlief? Und ob ihn dann nach weiteren zweihundert Jahren jemand finden würde, der noch viel kleiner war als er? Von einem, der vielleicht sogar von ihm selbst abstammte ...
Er dachte an Agnes. Er hätte sie nicht allein lassen sollen! Aber das war nicht sein eigentliches Vergehen. Er wußte, daß er ein Opfer seiner eigenen Neugier geworden war. An den ersten drei, vier Öffnungen in der Teufelsmauer war er noch standhaft geblieben, doch dann hatte er doch noch versucht, einen Blick in den verbotenen Wall zu werfen, der das Sakriversum in zwei Welten teilte, die von Anfang an nichts miteinander zu tun hatten.
Aber sein Vater war durchgekommen! Seine Mutter sogar zweimal!
Er erinnerte sich an die Legenden, die immer wieder unter der Linde erzählt worden waren: Geschichten von Zeiten, in denen große, böse Tiere durch die Mauern gedrungen waren, um die Felder kurz vor der Ernte leerzufressen. Oder die Große Seuche vor vierhundertundfünfzig Jahren. Ein einziger kranker Bankert hatte sie durch die Mauer gebracht.
Es sollte sogar nächtliche Kämpfe und Belagerungen an der Mauer gegeben haben. Zum Ende der Grausamen Jahre hatten die Bankerts versucht, das Geheimnis des Sakriversums an die Weltlichen zu verraten. Zusammen mit einigen hohen Herrn des Domkapitels waren sie an der Teufelsmauer aufgetaucht. Doch die Schander hatten durch Ulrich, der von Lancelot und Gudruns Enkeln Wetzel und Breida abstammte, eine Warnung erhalten. Zu dieser Zeit war Ulrich der erste, der den umgekehrten Weg geschafft hatte - so wie später Ekkehard und Uta.
Guntram wußte nicht, daß bei diesem viele Jahrhunderte zurückliegenden Vorfall Blut seiner eigenen Familie sich erstmalig mit Bankert- Blut gemischt hatte.
Er erinnerte sich plötzlich an Meister Wolfram. Im gleichen Augenblick vernahm er seine Worte:
„ ... und Ulrich hörte , daß wir verraten worden waren. Da kam er wieder zu uns und wir verziehen ihm. Wir machten unser Dorf und alle Felder dem Erdboden gleich. Kein Baum blieb stehen und kein Stein auf dem anderen. Nur etwas konnten wir vor der Flucht nicht mehr zerstören: das Buch-Heim. Und als die Weltlichen mit den Verrätern ins Sakriversum eindrangen , war es nur dies , was sie noch fanden. Sie ließen es als Denkmal eines großen Baumeisters stehen. Fortan hat niemals mehr ein Weltlicher das Sakriversum betreten. Das Volk , aus dem die Verräter kamen , wurde in alle Welt vertrieben. Wir selbst waren gezwungen , unsere eigenen Kinder zu töten , weil das zerstörte Dorf sie nicht mehr ernähren konnte. Damals gab es bereits zwölf Familien. Doch 132 Jahre nach dem Einzug des ersten Geschwisterpaars mußte der Zwölf-Familien-Beschluß gefaßt werden , daß keine Familie mehr als sechs Angehörige haben durfte. So blieb es weitere zweihundertundfünfundfünfzig Jahre. Es waren die Grausamen Jahre ...«
Guntram stand auf. Er wandte sich nach rechts. Was ihm soeben bewußt geworden war, konnte nur ein Teil der großen Geheimnisse sein, die Meister Wolfram an ihn weitergegeben hatte.
Eines Tages würde er das ganze Wissen der Logenmeister kennen!
Der Weg aus dem Labyrinth der Teufelsmauer war ganz einfach. Man durfte nur nicht so denken, wie normale Menschen. Guntram folgte verschlüsselten, magischen Gesetzen, die sich aus Form und Winkeln der Gänge ergaben. Geist und Materie, Menschen und Gott - wo sie zusammenfanden, begann die Wahrheit des Universums ...
Er trat in die Nacht der vielen Monde hinaus. Von seinem Standort aus bildeten sie das Zeichen der Logenmeister. Es wies genau auf die Hütte von Meister Albrecht ...
16. KAPITEL
In dieser Nacht konnte Goetz lange nicht einschlafen. Er hatte sich im Ruheraum der Setzer ein Lager aufgeschlagen. Noch am Abend hatte er geduscht, ein paar Medikamente genommen, einen sauberen Overall und
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