Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
Meister Wolfram. Sie blickten sich bedeutungsvoll an, als sie sahen, wie eingefallen der Dorfälteste inzwischen wirkte.
Während nach und nach auch die anderen Clan-Chefs oben ankamen, räumten Mathilda und Meta die letzten, nicht mehr genießbaren Abfälle bis zur Tischkante.
Eine Weile standen die Clan-Chefs schweigend vor Meister Wolfram. Erst als sie alle mit ihren gleichen, hohen, breitkrempigen Topfhüten, aber unterschiedlich geschnittenen und eingefärbten Wämsen, Mänteln und Umhängen vor ihm standen, öffnete Meister Wolfram die Augen.
»Ich danke euch, daß ihr gekommen seid. So schreibt es das Große Buch mit dem alten Gesetz vor und Rolands Testament ...«
» ... von dem wir nur noch eine Hälfte besitzen!« unterbrach Wilhelm, der Schmied, mit einem Seitenblick zu Meister Otto.
Wolfram hob zitternd die Hände. Er saß auf einem Stuhl, während die anderen standen. Hinter ihm erhellten sich die Mauern der Gruft durch Fackeln, die von den weiter unten lagernden Familien mitgebracht worden waren.
»Ihr habt noch Kerzen«, sagte Meister Wolfram, »aber bei uns gibt es keine Brotkrumen mehr. Als unsere letzte Kerze dort zu flackern begann, haben wir alle noch einmal saure Milch getrunken. Jetzt haben wir nichts mehr ...«
»Bei uns ist es nicht besser«, nickte Meister Wirnt, »und ich dachte, daß ich als Müller genügend Korn und Mehl mitgenommen hätte!«
»Wir haben noch ein kleines Fäßchen Bier«, räusperte sich Meister Bieterolf.
»Wir etwas Trockenfleisch«, sagte ein anderer.
»Und wir einen Krug Leinöl.«
»Wir haben nichts mehr.«
»Wir auch nicht.«
Die übrigen schüttelten stumm den Kopf. Meister Wolfram richtete sich mühsam auf. Das Lärmen der Familien auf den weiter unten stehenden Bohlentischen war zu einem leisen, ängstlichen Gemurmel abgesunken. Sie warteten auf den Beschluß der Meister.
Guntram und Agnes beobachteten von der Mitte des Tisches aus die alten Männer. Die übrigen Mitglieder ihrer Familie hatten sich an den gegenüberliegenden Rand zurückgezogen. Marga weinte noch immer. Ulf saß an einem wackelig wirkenden, roh zusammengezimmerten Tisch und zeichnete mit einem feinen Stift auf die schmutzige Platte. Lea rieb ihre letzten Kräuter mit Daumen und Zeigefinger über der Kerzenflamme.
»Würde das, was wir gemeinsam aufbringen können, reichen bis nach oben?« fragte Meister Wolfram. Die anderen Clan-Chefs sahen nacheinander zu Boden.
»Nein!« sagte Meister Wirnt schließlich.
»Wir hätten schon vor einer Woche aufbrechen müssen«, nickte Meister Friedrich ernst. »Da hatten wir noch Lebensmittel.«
»Ihr wißt, daß die Gefahr immer noch zu groß ist«, sagte Meister Wolfram kopfschüttelnd. »Diesmal ist eine sehr böse Pest in der Luft. Sie hat nicht nur die Weltlichen , sondern auch Vögel und anderes Getier ausgerottet ...«
»Und wer sagt, daß sie auch uns töten würde?« fragte Meister Lamprecht. Meister Wolfram sah ihn mit seinen plötzlich wieder klaren Augen durchdringend an.
»Kennst du die Zeichen nicht mehr, Lamprecht? Hast du vergessen, daß auch geweihtes, magisches Lustralwasser die Kraft verliert, wenn es bei Neumond nicht mit Blei geläutert wird?«
»Ich weiß, was Blei vermag«, antwortete Lamprecht unwillig.
»Wir leben schon seit sieben Jahrhunderten unter dem Bleidach der Kathedrale. Der Staub von Blei hat uns schließlich von einer Generation zur anderen immer kleiner gemacht. Er fließt in unseren Adern! Vielleicht ist das die Pest, mit der wir diese andere Pest bekämpfen können!«
»Versündige dich nicht!« mahnte Meister Wolfram. »Ich werde jedenfalls nicht mehr hinaufgehen! Wir trinken hier den Wein der Letzten Gnade, weil wir nicht dulden dürfen, daß sich das kranke Blut auf unsere Kindeskinder überträgt ...«
»Wir wollen trotzdem leben!« rief Guntram. Die Meister drehten wie Marionetten sich gleichzeitig zu ihm um. Guntrams Protest war so laut gewesen, daß selbst die Schander auf den unteren Etagen der Bohlentische verstummten.
»Ist das nicht Guntram, der Sohn Ekkehards?« fragte Herbort, der Clan-Chef der Schlachter, Abdecker, Doctores und Seifensieder. Er hatte lange, spitze Ohren, die wie bei einem der Fabeltiere an den Wasserspeiern der Kathedrale schräg nach oben standen.
Otto, der Friedliche, hob seine kurzen, rosigen Finger.
»Gemach! Gemach!« rief er. »Nur keine Hast! Herbort hat recht, aber auch Wirnt, Friedrich, Lamprecht und die anderen, die bisher noch nicht zu Wort gekommen sind
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