Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
König Llewellyn Corvay und seine Berater traten auf die Wiese. Während der kleine Hofstaat sich fast komplett neu eingekleidet hatte, erschien Corvay in seinen alten Kleidungsstücken. Er war zu groß, um irgend etwas von den Schandern tragen zu können.
Zusammen mit seinem Gefolge schritt er an den Clan-Chefs vorbei. Er hielt sich dicht am Bach, ging um den Teich herum und ließ seinen geflochtenen Korbsessel direkt unter der Dorflinde aufstellen.
Patrick Murphy ritt paukenschlagend über die schräge, mit Gras und Sommerblumen bewachsene Wiese. Er trieb die Bankerts wie ein Schäferhund vom See aus höher. Die Clan-Chefs schlossen sich dem Zug an.
Als alle unter der Linde versammelt waren, stieg Hector auf eine Holzbank.
»Ruhe!« rief er. »Seid doch mal ruhig!«
Das Lachen und Grölen verstummte langsam.
»Wir kommen jetzt zur Einteilung!«
Er half Galus auf die Bank. Meister Bieterolf erkannte, daß der Kahlköpfige seine dunkelblauen Sonntagshosen und sein bestes Wams trug. Dazu hatte er Schnallenschuhe und ein weißes Leinenhemd mit Rüschen an den Ärmeln aus der Familientruhe der Winzer angezogen.
»Diese Diebe!« preßte Bieterolf zwischen den Zähnen hervor. Gleichzeitig wurde ihm klar, wie ohnmächtig und hilflos sie von Anfang an gegen die Bankerts gewesen waren.
Jetzt kann uns nur noch Meister Albrecht helfen«, flüsterte Otto. Die anderen Clan-Chefs nickten stumm.
Galus brachte einen Toast auf den König aus. Während die Bankerts klatschten, heftete er einen zerknitterten Zettel an den Stamm der Linde.
»Wir haben zehn Häuser zur Verfügung«, rief er. »Für den König und seine Berater ist das Gehöft der Winzer vorgesehen. Aber nicht, weil es dort Wein gibt, sondern weil es zentral liegt ...«
Ein paar Bankerts johlten und pfiffen, andere lachten.
Galus hob die Hände.
»Zwei Häuser sind unbewohnbar, bleiben also noch sieben. Das macht eine Durchschnittsbelegung von sieben Personen pro Haus. Ihr könnt selbst entscheiden, in welchen Gruppen ihr zusammen wohnen wollt. Ich rufe jetzt die Hausbesitzer der Reihenfolge nach auf! Zuerst Lamprecht ...«
Der Chef der Sammler-Familie bewegte sich nicht.
» Meister Lamprecht!« wiederholte Galus süffisant.
Der Mann, der nie etwas verkommen ließ, trat vor. Er ging an der Bank unter der Linde vorbei bis zu Llewellyn Corvay.
»Ich protestiere!« sagte er mit bebender Stimme. »Wir waren stets ein friedfertiges Volk. Was hier geschieht, ist Mord an uns und unseren Familien!«
»Wir werden diesen Einwand prüfen!« rief König Corvay. Er drehte sich nach links, dann nach rechts. Einige Bankerts applaudierten. Corvay hob die Arme und übergab Galus wieder das Wort.
» Meister Heinrich, Meister Otto ...«
Nacheinander nannte er die Namen der oberen Clan-Chefs. Nur wenige merkten, daß er Wolfram ebenso ausließ, wie Friedrich bei der Nennung der unteren Familien. Dafür betonte er die bisher übliche Bezeichnung der Clan-Chefs wie lästige Adelstitel in einer soeben ausgerufenen Republik ...
»Ach, ich vergaß ... da ist ja noch Meister Friedrich!« rief er mit gespieltem Bedauern. »Was machen wir denn mit einem Clan-Chef, der kein Haus mehr hat?«
Corvays Berater steckten ihre Köpfe zusammen, während Galus angestrengt nach oben sah. Er spielte seine Rolle besser als alle anderen.
Hector flüsterte ihm zu, was sie beschlossen hatten. Galus nickte. Wieder hob er die Arme, um die Bankerts zu disziplinieren.
»König Corvay hat erneut großmütig und weise entschieden«, verkündete Galus. » Meister Friedrich, der Seiler, soll bei uns bleiben! Er wird zum königlichen Kurier ernannt und wird die Verbindung zwischen dem Dorf und den Schandern am Eichberg unterhalten.«
»Nein!« sagte Meister Friedrich laut und deutlich.
»Nein?«
Galus verzog sein Gesicht zu einem schiefen Grinsen. Er sah Hector an, dann Corvay. Als ehemalige Profis im internationalen Show-Geschäft erkannten sie alle drei, wie gefährlich die Situation war. Ein einziger Bauerntölpel konnte eine jahrelang einstudierte Große Illusion schneller platzen lassen als alle hochintelligenten Kritiker!
Und niemand wußte besser als Corvays Berater, daß sie diesmal um ihre Existenz und ihre Zukunft pokerten ...
Es war ein wahnwitziges, verrücktes und absurdes Spiel. Sie hatten sich auf einen Alptraum eingelassen - vielleicht nur, weil ihr früheres Leben noch viel grausamer gewesen war! Als Krüppel, Abschaum und Mißachtete hatten sie gegen Normen kämpfen müssen,
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