Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
bildete. Obwohl er sonst zu den Kräftigsten seines Volkes gehört hatte, spürte er plötzlich, wie seine Knie zu zittern begannen. Er konnte seine Schwester nicht ablegen - dafür war der ausgewaschene Steinsims zu schmal. Wie auf einem Schwebebalken wankte er weiter. Er durfte nicht nach unten sehen! Die endlose Tiefe erschreckte ihn nach den langen Tagen und Nächten in der Kellergruft.
Guntram biß die Zähne zusammen. Er war sich klar darüber, daß Agnes das schwere Wegstück innerhalb des geheimen Weges nach oben nicht mehr schaffen würde. Deshalb mußte er eine andere Möglichkeit finden.
Die Sonne stand schon tief über den Dächern der leeren Stadt unter ihnen. Guntram mußte sich zwingen, jetzt nicht daran zu denken, was mit der Stadt geschehen war. Vorsichtig tastend setzte er einen Fuß vor den anderen.
Er ging wieder abwärts!
Dort, wo ihm die erste Hälfte des Plans fehlte, kamen sie nicht weiter. Deshalb entschloß er sich, bis zu einem der Tabernakeltürmchen über dem Strebwerk außerhalb des Kirchenschiffs zurückzukehren. Die Türmchen sahen aus wie eigenständige, winzige Kapellen auf den Außenpfeilern am Ende steinerner Brücken. Von dort aus konnte er mit etwas Glück zu einem anderen Tabernakeltürmchen gelangen und wieder höher klettern.
Heute war es dafür ohnehin zu spät. Er konzentrierte sich ganz auf den gefährlichen Weg. Als er das Türmchen fast erreicht hatte, stöhnte Agnes auf. Entsetzt wankte Guntram zwei Schritte weiter. Er rutschte nach vorn. Seine Stiefel glitten über angefaulte Blätter und feuchten Boden.
In diesem Augenblick erwachte Agnes. Er preßte sie fest an sich, keuchte angestrengt und versuchte, das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Wenn sie aus dieser Höhe abstürzten, war alles vorbei ...
»Still!« flehte Guntram heiser. »Nicht bewegen!«
»Was wankt so?« fragte sie müde. »Warum tust du mir weh?«
Guntram zitterte am ganzen Körper. Er sah das Tabernakeltürmchen unmittelbar vor sich, aber er konnte die schlanken Fensteröffnungen, die wie eine Zwergenausgabe der großen Kathedralenfenster aussahen, nicht erreichen. Der schräg nach außen wachsende Stamm einer kleinen Birke versperrte ihm den Zugang.
Es war nichts Besonderes, daß sich Gräser und kleine Büsche im Gewirr der Nischen und Verstrebungen ausbreiteten. Von unten konnte niemand sehen, wie viele Samenkörner, durch den Wind verweht, im Mauerwerk der Kathedrale Wurzeln geschlagen hatten.
Normalerweise hätte Guntram sein Messer genommen und sich den Weg zum Tabernakeltürmchen freigeschlagen, aber jetzt hatte er seine Schwester im Arm. Er konnte sie nicht absetzen. Sie würde erschrecken, wenn sie sah, wo sie sich befanden ...
Guntram spürte, wie er langsam über die feuchten Blätter weiterrutschte.
»Halt dich an den Zweigen fest!« keuchte er.
Agnes verstand nicht, in welcher Gefahr sie sich befanden. Sie seufzte tief, dann tat sie, was ihr Bruder wollte. Noch einmal wurde die Situation lebensgefährlich. Agnes griff nach den Birkenzweigen. Der Ruck schleuderte Guntram zur Seite. Er schwankte. Mit einer letzten Kraftanstrengung warf er sich nach vorn. Im gleichen Augenblick brachen die Birkenzweige in Agnes Händen. Sie glitt aus seinen Armen. Guntram hielt sie nur noch an ihrem Mieder fest. Er stieß gegen den Birkenstamm, klammerte sich mit einem Arm um das schwankende Bäumchen und zog mit dem anderen seine Schwester auf den Steg über dem Abgrund zurück.
Agnes schrie.
Ihre hellblauen Augen waren vor Angst unnatürlich geweitet. Guntram strampelte mit seinen Schuhen durch die glitschigen, vermoderten Blätter. Agnes fand keinen Halt. Sie hing noch immer mit den Beinen in der Luft.
Zentimeter um Zentimeter zog Guntram sie höher. Sie fiel hinter dem Birkenstamm in die weiche Mulde aus Blättern und Erde, die sich an der Berührungsstelle zwischen dem Bogen und dem Pfeiler mit dem Tabernakeltürmchen über einer verstopften Regenwasserrinne gebildet hatte.
Guntram schob sich vorsichtig am schrägstehenden Stamm des Birkenbäumchens vorbei. Agnes lag leise schluchzend in einem Gebüsch. Als ihr Bruder die Zweige zur Seite schob, schlugen ihm Blätter und wilde Haselnüsse ins Gesicht.
Er brauchte einige Sekunden, ehe er verstand, was das hieß. Am ganzen Körper immer noch zitternd kniete er sich auf den modrig riechenden Blätterboden.
»Haselnüsse!« murmelte er verwundert. »Wo kommen die denn her zu dieser Jahreszeit?«
Er lachte. Vor Freude und Erschöpfung
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