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Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Titel: Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas R. P. Mielke
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weitergeschleppt oder verstoßen ...
    An der vierzigsten Stufe, dicht hinter der dritten Biegung der Treppe nach oben, saß Corvays Narr Lello auf einem Mauervorsprung. Er hatte die Beine übereinandergeschlagen. An seinen dürren Armen klimperten Gold- und Silberketten, die er toten Schandern gestohlen hatte.
    Neben ihm hockte ein halbes Dutzend Fackelträger. Sie teilten sich die letzten trockenen Brotkrümel aus den Taschen geplünderter Schander.
    Obwohl die beiden Zwergvölker eine ähnliche Entwicklungsgeschichte hatten, unterschieden sie sich nicht nur in ihrem Sozialverhalten, sondern auch in ihren ethischen Auffassungen.
    Die Schander hatten von Anfang an Familien gebildet, die ihnen Schutz und Geborgenheit in einer eingeschworenen Gemeinschaft boten. Sie ruhten in sich selbst, solange keine äußeren Ereignisse ihre schicksalhafte Isolation durchbrachen.
    Bankerts besaßen derartige Bindungen nicht mehr. Seit Jahrhunderten schlossen sie sich nur um des eigenen Vorteils willen zu Rudeln zusammen. Sie waren Einzelgänger, mißtrauisch wie Schakale; Zukleingeratene, die danach haschen mußten, beim Kampf ums Überleben auch einmal einen saftigen Brocken zu erbeuten.
    Bankerts kannten die Welt. Sie wußten, daß es immer mehr gegeben hatte als das Sakriversum. Als Ausgestoßene und von den Weltlichen verlachte Mißgeburten hatten sie gelernt, gemein zu sein. Sie wußten, wo man zustoßen und wann man sich in ein Loch zurückziehen mußte. Der Fluch, der über ihrer Herkunft lag, hatte sie in allen Generationen wesentlich grausamer getroffen als die friedfertigen Schander.
    Vielleicht war deshalb nun die Zeit gekommen, in der sich all das lange Angestaute gewaltsam und brutal entladen konnte ...
    Als an der neunzehnten Stufe Meister Wolfram am Arm seiner Tochter Mathilda zusammenbrach, grölten die Bankerts, die länger in den Städten als unter dem Dach der Kathedrale gelebt hatten. Viele von ihnen wirkten weitaus kräftiger und gröber als die zierlichen Schander. Große und Kleine, Fettwänste und gelenkige Athleten hatten sich unter Corvays Führung nach der Katastrophe vom 8. März in der Kathedrale zusammengefunden, und einige der Schlimmsten kannten das Sakriversum nur vom Hörensagen ...
    Die Nachricht von Wolframs Tod flog durch die engen Gänge. Sie erreichte Lello bei Stufe vierzig. Sofort stimmte Corvays Narr einen Spottgesang an. Nur wenige Minuten später wußte auch Llewellyn Corvay, daß der Clan-Chef der Alchimisten tot war.
    Corvay hatte mit ein paar kräftigen Männern bereits die fünfundfünfzigste Stufe des geheimen Weges erklommen. Er war gerade dabei, sich auf einen Schlitten zu stellen, der ihn und einige andere über eine schräge Wasserlinie höher ziehen sollte.
    Als er hörte, daß Meister Wolfram nicht mehr lebte, hob er die Arme. Er drehte sich um und verließ den Schlitten.
    »Er muß mit!« sagte er nach kurzer Überlegung. Seine Stimme klang heiser, aber hart.
    Einer seiner Berater - der stämmige, glatzköpfige Zirkus-Ringer mit einem Dschingis-Khan-Bart - spuckte abfällig auf die Treppenstufen.
    »Wozu, Corvay? Was willst du mit der Leiche eines alten Mannes?«
    »Er ist ein Symbol ...«
    »Er war ein Symbol!«
    »Und genau deshalb werden wir ihn mitnehmen!«
    »Einen toten Mann?«
    »Einen Mann, der nach den Regeln der Schander drei Tage lang vor dem Heiligen Buch aufgebahrt wird, damit seine Seele Zeit hat, sich von den Lebenden zu verabschieden«, sagte Corvay unwillig. »Ihr müßt noch sehr viel lernen, Hector! Und zwar schnell!«
    Corvays Berater schüttelte den Kopf.
    »Sollen wir etwa ihre Sitten und Gebräuche annehmen?« fragte er trotzig. Corvay kniff die Augen zusammen.
    »Vielleicht wirst du noch eines Tages wünschen, mehr von den Regeln dieses Volkes zu verstehen. Wir gehen in ihre Welt und nicht in unsere, vergiß das nicht!«
    Corvays Berater schnalzte mit den Lippen. Seine wäßrigen albinohaften Augen blinzelten ins Licht der Fackeln. Für einen Augenblick funkelte die Spur von Widerstand in ihnen.
    Er wußte, daß er nicht so intelligent wie Galus, so doppelzüngig wie Menennery Luck und so überlegen wie Patrick auftreten konnte. Corvay hatte ihn eher als Chef der Leibwache zu seinem Berater gemacht.
    Vor vielen Jahren waren sie bereits gemeinsam durch die exklusiven Clubs überall in Europa und Amerika gezogen. Sie hatten ausverkaufte Live-Shows produziert und immer ein paar Tricks mehr auf Lager gehabt als ihre Konkurrenten.
    Corvay war stets ein

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