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Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Titel: Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas R. P. Mielke
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liefen ihm Tränen über die schmutzigen Wangen. Agnes kniete sich neben ihn.
    »Du dummer, dummer Kerl!« weinte und lachte sie gleichzeitig. »Warum hast du nicht gewartet, bis ich mich wieder erholt hatte?«
    »Ich wollte nicht, daß wir morgen früh aufgeben, weil wir dann gemerkt hätten, daß wir beide schon zu schwach zum weiterklettern sind ...«
    Sie richtete sich langsam auf.
    »Machst du mir eine Nuß auf?« sagte sie und lächelte.
    Guntram reckte sich. »Hier ist es zu feucht für die Nacht! Komm, wir steigen in das Türmchen!«
    Er reichte Agnes die Hand. Sie stand auf. Er merkte, wie schwer es ihr fiel, aber sie lächelte. Er half ihr, über kleine Gesimsstufen in die Fensterhöhle des Türmchens zu klettern. Es hatte vier Hauptsäulen und um sie herum kleine, halbrund nach oben strebende Halbsäulen.
    Der obere Abschluß des Strebpfeilers außerhalb des Kirchenschiffs trug das Tabernakeltürmchen wie alle anderen Pfeiler, auf denen sich die reich verzierten und aus massivem Stein gehauenen Fialen befanden. Sie bildeten verkleinerte Wiederholungen der Kathedralenidee ...
    »Hier könnten zehn von uns bequem schlafen«, meinte Agnes, nachdem sie sich im Raum zwischen den vier Ecksäulen umgesehen hatte.
    »Aber nicht, wenn die großen Taubenvögel der Weltlichen wiederkommen«, meinte Guntram besorgt. Er deutete auf weißen Vogelkot, große Federn am Boden und Reste von Eierschalen.
    »Hol uns eine Nuß«, bat Agnes. Sie stand im rötlichen Licht der untergehenden Sonne vor der leeren Fensteröffnung im Westen des Tabernakeltürmchens. Ihr zerwühltes hellblondes Haar fiel auf ihre Schultern. Es leuchtete im Widerschein der Abendsonne.
    »Jetzt siehst du aus wie ein Burgfräulein, das auf die Heimkehr eines Kreuzritters wartet«, meinte Guntram voller Bewunderung.
    »Sie hatten einen weiten Weg ins Heilige Land«, sagte Agnes ernst. »Meinst du, wir werden den Weg in unser Sakriversum schaffen?«
    Er trat auf sie zu und legte einen Arm um ihre Schultern.
    Vorsichtig drehte er sie um. Eng aneinandergeschmiegt sahen sie zu, wie die Sonne über den Dächern der Weltlichen unterging. Noch nie hatten sie eine derartig vollkommene Stille erlebt.
    »Woran denkst du?« fragte Guntram.
    »An die Zukunft.«
    »An morgen?«
    »Nein, weiter!«
    Ein scheues Rot flog über ihre Wangen. Er merkte es, sagte aber nichts.
    »Wie friedvoll alles aussieht«, sagte Agnes. »Man könnte meinen, daß die Weltlichen nur einmal ganz kurz weggegangen sind.«
    Guntram wollte sie ansehen, als sein Blick von einem kleinen, gelben Feuerschein im Süden gefangen wurde.
    »Sieh mal dort! Ich glaube, da brennt es ...«
    »Das war vorhin noch nicht.«
    »Vielleicht haben wir es nur nicht bemerkt, weil die Sonne noch schien ...«
    »Da brennt es auch«, sagte Agnes und zeigte nach Westen. Das zweite Feuer über den Dächern befand sich näher an der Kathedrale als das im Süden.
    »Merkwürdig«, meinte Guntram. »Nach so vielen Tagen?«
    »Vielleicht stirbt die Stadt erst jetzt ...«
    Guntram beugte sich über die steinerne Brüstung des Fialen-Türmchens. Er sah nach rechts und links, ehe er sich wieder zu Agnes umdrehte und den Arm um sie legte.
    »Hier kann uns nichts passieren, aber es wäre doch sicherer, wenn wir bald das Sakriversum erreichten!«
    »Zuerst müssen wir essen und schlafen«, sagte sie resolut.
    Guntram hielt noch einmal nach den beiden Feuern Ausschau. Er hatte das Gefühl, als wären sie noch größer geworden.
    »Ich hole uns eine Nuß!«
    Er ließ sie los. Der rote Lichtstreifen am Horizont reichte gerade noch aus, um etwas zu finden. Er lief zur Nordseite des Tabernakeltürmchens, beugte sich nach draußen und zog mühsam einen Haselzweig heran. Die Nüsse hingen wie große, braune Tropfen zwischen den Blättern.
    Guntram zog und riß eine Weile an einer Nuß. Obwohl er mit beiden Händen zupackte, konnte er sie nicht abreißen.
    »Nimm du mein Messer! Ich halte den Zweig fest!«
    Er stemmte sich mit den Beinen gegen eine Mauerkante. Agnes zog das lange Hakenmesser aus Guntrams Gürtel.
    »Jetzt!« befahl er.
    Das scharfe Eisen trennte die Nuß vom Zweig. Guntram stolperte zurück. Er fiel direkt neben das verlassene Taubennest. Als er sich prustend und lachend aufrichtete, verharrte er plötzlich mitten in der Bewegung.
    »Agnes, sieh mal, ein Tauben-Ei ...«
    Sie ließ das Schwert ihres Bruders fallen und lief zu ihm.
    »Wirklich, ein Tauben-Ei!«
    »Schade, daß wir kein Feuer machen können«, seufzte er

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