Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
pustete er lange und sorgfältig. Schluck für Schluck schlürfte er die heiße Brühe. Von der Hitze und dem Weinduft rann ihm die Nase.
Er mußte sich hinsetzen. Der Plastiklöffel entglitt seinen Fingern. Er nahm die Dose in beide Hände. Zum erstenmal in seinem Leben schmatzte und schlürfte er. Er kaute langsam auf den weichen Markklößchen, spuckte kleine Gewürzteile auf den Fußboden und spürte, wie er wieder müde wurde.
Den letzten Rest trank er bereits mit geschlossenen Augen, dann lehnte er sich zur Seite, ließ die Dose fallen und schlief ein.
*
Als die Nacht kam, wich die Starre, die sieben Wochen lang die Stadt paralysiert hatte, langsam aus den Mauern. Während Goetz von Coburg im Vorratskeller unter dem Ostchor der Kathedrale schlief, regten sich neue Kräfte in der Stadt, die ebenso unerwartet ihre Bewohner verloren hatte wie Angkor Vat und andere.
Im Bleikeller der Kathedrale hatten die Bankerts die Familien der Schander auf dem Steinfußboden der Alchimisten-Gruft zusammengetrieben. Über ihnen stapelten sich in immer neuen Verkleinerungen die Bohlentische übereinander: Schichten von Fluchträumen wie bei ausgebrannten Städten der Antike, auf deren Grundmauern von späteren Generationen immer neue Siedlungen errichtet worden waren. Menschen, die in geschlossenen Kulturkreisen lebten, hingen an ihren Siedlungsplätzen - auch wenn sie noch so unsicher und gefährlich waren ...
Corvay war wieder ganz der alte. Der Rauch der Fackeln hatte seine Augen gerötet. An seinen Händen klebte Blut, aber das war auch bei anderen der Fall.
König Llewellyn Corvay hätte Grund gehabt, sich über seinen Triumph zufrieden zu zeigen. Der Sieg über die greinenden Schander -Familien hatte seine Position wieder gefestigt. Noch ahnte außer Corvays Beratern niemand, daß sie einen Pyrrhussieg errungen hatten. Sie hatten einem kleinen, zum Sterben bereiten Volk die Hoffnung auf ein gemeinsames, friedliches Ende gestohlen. Vielleicht waren diejenigen, die den kurzen, heftigen und sinnlosen Kampf nicht überlebt hatten, besser dran als die anderen, auf die nun Durst und Hunger warteten ...
Llewellyns Leute schichteten Scheiterhaufen auf. Sie zerschlugen Tische, Bänke und Gerätschaften. Aus einem tief in ihren Herzen nistenden Drang nach Vergeltung wollten sie nichts übrig lassen, was an die Goldenen Jahre der Schander- Familien erinnerte.
»Verbrennt die Toten!« hieß die Parole. »Und dann hinauf ins Sakriversum!«
Außer den beiden jungen Schandern war es niemandem gelungen, die Gruft durch das Taubenloch zu verlassen. Jetzt mußten sie andere Wege suchen. Und dafür brauchten sie die Überlebenden des verstörten Volkes.
*
Guntram wälzte sich von einer Seite auf die andere. Er stöhnte unter Alpträumen im Halbschlaf. Seine linke Hand glitt über die Brusthügel seiner Schwester. Er schmiegte sich an ihren warmen, weichen Körper, hörte, wie sie im Schlaf seufzte und wachte plötzlich auf.
Er brauchte eine Weile, bis er verstand, wo er war. Er blinzelte ins ungewohnte Licht der Morgensonne. Wie lange hatte er ihr Licht nicht mehr gesehen ...
Sein Erwachen war wie eine Geburt.
Die grauenhaften Stunden der Flucht während des vergangenen Tages und der Nacht gehörten der Vergangenheit an. Er wollte sich nicht mehr daran erinnern, wie er und Agnes dunkle Stufen überwunden hatten, auf die nur ab und zu ein schmaler Dämmerschein gefallen war.
Agnes wachte ebenfalls auf.
»Wo sind wir?« fragte sie leise und noch etwas schläfrig.
»Wir haben mehr als hundert Stufen geschafft.«
»So wenig erst?«
Er beugte sich über sie und küßte ihre verschmutzte Stirn. In diesem Augenblick wußte er, daß er nichts sehnlicher wünschte, als eines Tages ganz mit ihr zusammen zu sein. Sie sah wie eine zierliche, schmutzige Puppe aus weißem Stein aus. Ihr dichtes, weizenblondes Haar wirkte verfilzt, ihre Wangen eingefallen und ihre Glieder abgemagert. Doch bald würde sie wieder lachen und ihn mit hellen, blinkenden Augen ansehen ...
Guntram machte sich nichts vor. Er wußte inzwischen, wie mühsam der Weg über die Stufen, Rinnen und schrägen Röhren war.
Er hatte bisher noch keine Zeit gefunden, über das innere System der Regenwasserleitungen nachzudenken. Doch jetzt verstand er plötzlich, wie er und Agnes schneller nach oben kommen konnten: er mußte umgekehrt denken! Was enger wurde und trotzdem nicht von der vertikalen Hauptrichtung abwich, war der richtige Weg - mußte der Weg nach oben sein!
Weitere Kostenlose Bücher