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Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Titel: Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas R. P. Mielke
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hungrig.
    »Warum nicht? Ich habe einen Magnesiumstein bei mir, wie es sich für eine Hausfrau gehört.«
    »Aber zuerst die Haselnuß!«
    »Einverstanden!«
    Sie standen auf und legten die Haselnuß in eine Ecke zwischen den Pfeilern des Tabernakeltürmchens.
    »Geh ruhig einen Schritt zurück«, warnte Guntram. »Mein Messerschlag ist gefürchtet ...«
    »Angeber!« lachte Agnes.
    Guntram stellte sich in Position, holte aus und splitterte nur ein Stück der harten Nußschale ab.
    Er knurrte und schlug wieder zu. Diesmal spaltete er die Nuß mit einem Streich. Er bückte sich und sammelte die weichen Krümel auf.
    »Hier«, sagte er und teilte sie mit Agnes. Sie schloß die Augen und genoß den fruchtigen, verführerischen Duft. Ganz vorsichtig begannen sie zu kauen. Während sie ihren ersten großen Hunger stillten, sammelten sie Zweige und Strohstücke aus dem Taubennest. Sie schichteten alle an der östlichen Ecke des Tabernakeltürmchens übereinander.
    Agnes legte ihren Magnesiumstein auf den Steinboden. Mit seinem Hakenmesser schabte Guntram kleine, metallisch glitzernde Späne ab. Agnes schichtete sie in ein Bett aus Tauben-Flaumfedern unter den Zweigen und Strohstückchen.
    »So, jetzt kannst du Funken schlagen!« sagte sie schließlich. Diesmal hatte Guntram mit seinem Messer sofort Erfolg. Er ließ die Eisenklinge über die Steine gleiten. Die Funken sprangen gegen die Magnesiumspäne, entzündeten sie zu einem hellen, weißen Licht, gaben die heiße Flamme an Federflaum, Stroh und Zweige weiter.
    Nach wenigen Minuten brannte das Lagerfeuer und verbreitete eine anheimelnde Gemütlichkeit im Tabernakeltürmchen neben dem großen, dunklen Kathedralenschiff.
    »Was machen wir jetzt mit dem Tauben-Ei?« fragte Guntram.
    »Ich habe einen Lederbecher und meinen Löffel mitgenommen«, antwortete Agnes. »Wenn du es schaffst, mit deinem Messer die obere Hälfte der Schale vom Ei zu stechen; könnten wir sie wie einen Topf benutzen und auf das Feuer setzen.«
    »Wie meinst du das?«
    »Ganz einfach! Du schneidest etwas von der Schale ab, legst es hier auf die Zweige und füllst die Mulde mit frischem Ei. Dann wird es warm und gerinnt. Wenn wir nicht zu lange warten, ersetzt die Feuchtigkeit im gerührten Ei sogar einen Becher Wein ...«
    Guntram schüttelte überrascht den Kopf.
    »Woher hast du bloß all die praktischen Ideen?«
    Sie schlug die Augen nieder und lächelte.
    »Das erwartet man doch von einer guten Hausfrau, oder?«
    Guntram ergriff sein Messer, stand auf, ging einmal um das Tauben-Ei herum und setzte mehrmals zu Probestichen an, ehe er die Spitze seines Hakenmessers vorsichtig durch die Schale bohrte.
    Zuerst geschah gar nichts - erst als er weiterschnitt, quoll etwas Eiweiß aus dem Spalt in der bröckelnden Schale. Agnes kam näher und hielt mit beiden Händen das Tauben-Ei fest.
    »Jetzt stich hinein, damit das Eiweiß nicht wieder zurückläuft, wenn ich etwas herausnehme!«
    Guntram beobachtete, wie geschickt Agnes vorging. Sie schöpfte Eiweiß und Eigelb mit ihrem Lederbecher in die abgetrennte Spitze des Tauben-Eis, trug das Ganze vorsichtig zum Lagerfeuer und setzte es auf die Flammen.
    In diesem Augenblick ahnte Guntram, daß er nie in seinem Leben etwas Besseres essen würde!
    Er hob die Hand und streichelte mit seinen Fingerspitzen die Wangen seiner Schwester.
    »Danke, Agnes«, sagte er.

6. KAPITEL
    Der lange Zug der Hoffnungslosen war so weit auseinandergezogen, daß die ersten bereits fünfzig Stufen hinter sich gebracht hatten, während die anderen im Bleikeller sich noch immer weigerten, ihre letzte Zuflucht zu verlassen.
    Viele Mitglieder der Schander -Familien konnten einfach nicht mehr. Andere wehrten sich in stiller Ohnmacht gegen die beginnende Versklavung, indem sie sich tot stellten. Doch nur wenigen gelang es zu sterben ...
    Überall entlang der geheimen Fluchtpfade, von denen nur Corvays Horden wußten, spielten sich furchtbare Tragödien ab. Eltern wurden gezwungen, ihre halbverhungerten Kinder in kalten schmutzigen Nischen zurückzulassen. Lange füreinander bestimmte Geschwister verloren sich im Geröll nie benutzter Stufen, Gänge und Kavernen zwischen den Mauern der Kathedralentürme.
    Wer jetzt noch weinte, tat es still.
    Corvay peitschte gnadenlos sein Auswahlprinzip durch: wer nicht mehr weiter konnte, wurde nach seiner vorausgegangenen Stellung im Sakriversum befragt, auf Muskelschwund, Zahnverfall und Herztöne untersucht und dann wie Schlachtvieh

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