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Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Titel: Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas R. P. Mielke
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Er richtete sich auf.
    Beglückt folgte er ein paar Schritte den Sonnenstrahlen. Er tastete sich bis zu einem zerbrochenen Bleirohr. Es war so groß, daß er fast hindurchkriechen konnte und mündete an einer Fiale, einem der vielen aufgesetzten Türmchen über den äußeren Strebepfeilern der Kathedrale. So, wie der Wasserschlag bei einem Regenguß über die Pultdächer der Seitenschiffe und die Zeltdächer der Kapellkränze ablief, wurde auch der gewaltige Seitendruck der hohen Kathedralenmauern aufgefangen.
    Als Bewohner des Sakriversums wußte Guntram, wie wichtig die abgestuften Stützmauern außerhalb der eigentlichen Kirchenschiffe waren. Und er verstand, warum zu jeder mittelalterlichen Bauhütte nicht nur Steinmetze, Freimaurer und Figurenbildhauer gehört hatten, sondern auch Meister, die aus dem Wasserabfluß die Kraftlinien der Dächer und Gewölbe nach den Seiten hin berechnen konnten.
    Guntram versuchte, sich an der zerstörten, bröckeligen Stelle des großen Bleirohrs hochzuziehen. Er sah die eine Hälfte eines Wasserspeiers. Er glich einem weit nach außen ragenden Drachenkopf. Darüber kam nur noch die Löwenebene und die etwas nach innen versetzte Schlangenebene ...
    In einer Nacht hatten er und Agnes mehr geschafft als sein ganzes Volk bei seinem Abstieg in die Bleikeller in zwei Tagen!
    Guntram fühlte, wie sein Herz vor Freude klopfte. Er ließ sich fallen und lief zu Agnes zurück. Sie war wieder eingenickt.
    »Wach auf, Agnes!« rief er. »Wir sind schon in der Ebene der Drachen-Wasserspeier!«
    Agnes schlug die Augen auf. Sie sah sehr schön aus in ihrer morgendlichen Unschuld.
    »Wo sind wir?«
    »Wenn Gott uns hilft, können wir übermorgen schon im Sakriversum sein!«
    Ein Schatten huschte über Agnes Gesicht. Es war, als würde sie erst jetzt begreifen, was sie und Guntram getan hatten.
    »O Guntram!« sagte sie entsetzt. Sie richtete sich auf, hüllte sich fröstelnd in ihren Umhang und starrte ihren Bruder mit großen Augen an.
    »Mach dir keine Sorgen, Agnes!«
    »Ich fürchte mich ohne die anderen ...«
    »Vielleicht finden wir auch für sie einen Weg!«
    Agnes schüttelte traurig den Kopf.
    »Wir haben sie verraten!«
    »Nein!«
    Guntram stellte sich breitbeinig vor sie. Er faßte den Knauf des Hakenmessers an seinem Gürtel.
    »Es waren die Bankerts! Sie haben nicht zugelassen, daß Meister Wolfram unserer Familie den letzten Kelch gab ...«
    Agnes blickte ihren Bruder nachdenklich an.
    »Weißt du nicht mehr, was wirklich war? Hatten wir beide uns nicht schon vor der Flucht versprochen, daß wir nicht sterben wollten?«
    »Na ja«, nickte Guntram etwas verlegen.
    »Wenn wir jemals das Sakriversum erreichen, sollten wir unser Leben nicht mit einer Lüge beginnen«, meinte Agnes. »Es stimmt - die Bankerts kamen im rechten Augenblick - jedenfalls für dich und mich ...«
    »Wie kannst du so etwas sagen!«
    »Wären wir sonst geflohen - oder hätten wir gehorcht?«
    Guntram fand keine Antwort.
    Obwohl er älter war als seine Schwester, hatte sie ihn immer dann behutsam geführt und auf ihn aufgepaßt, wenn ihn sein ungestümes Temperament zu Torheiten verleitete.
    »Vielleicht hast du recht, Agnes ...«
    Sie lächelte.
    »Fühlst du dich stark genug, weiterzugehen?« fragte er.
    »Ich möchte nach Hause - zurück in unsere Welt!«
    »Dann komm!«
    Er legte seinen Arm um sie. Gemeinsam stiegen sie höher.
    Der Weg über die schrägen Ebenen, die ausgewaschenen Stufen und durch die halbverwitterten Bleirohre war anstrengend und mühsam. Manchmal fanden sie Stellen, an denen die Bleiwände Falten geworfen hatten. Sie ließen sich wie unregelmäßig geformte Treppen erklimmen. Doch dann kamen Stellen, an denen Guntram im Halbdunkel nach Mauervorsprüngen suchen mußte.
    Und immer wieder half ihnen der Wurfanker mit dem angeknoteten Seil. Ohne diese Hilfsmittel hätten sie in der gleichen Zeit nicht einmal die Hälfte der bisherigen Strecke bewältigt!
    Aber auch mit ihm war der Weg nach oben endlos ...
    Als sie nach vielen Stunden eine lange, dunkle, steil nach oben laufende Wasserrinne überwunden hatten, sah Guntram, daß Agnes nicht mehr konnte.
    Sie wankte bis zu einem schmalen Mauerspalt, durch den etwas Licht in den geheimen Weg fiel. Mit einem leisen, klagenden Aufseufzen brach sie zusammen ...
    Er wartete lange neben Agnes. Schließlich entschied er sich, Agnes zu tragen. Er nahm sie auf und betrat äußerst vorsichtig den Steg, der die Verankerung eines äußeren Schwibbogens

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