Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
Meister Bieterolf und Meister Wirnt gewesen.
Otto, der Friedfertige, gehörte nicht dazu, obwohl er ebenfalls ein blaues und ein graues Auge hatte.
Guntram dachte an Ulf und Lea. Eigentlich hätte Ulf ein Logenmeister werden können. Nur weil er Meister Lamprechts Pflegetochter Lea geheiratet hatte, durfte er die letzte Weihe nicht erhalten. Denn Lea war nach wie vor eine Fremde.
Guntram merkte, daß Agnes auf seine Antwort wartete.
»Solange ich nicht weiß, was ich darf, muß ich schweigen«, sagte er schließlich. Zum erstenmal, seit er denken konnte, richtete sich eine unsichtbare Trennwand zwischen ihnen auf. Sie spürten beide, wie etwas von ihrer unschuldigen, innigen Geschwisterbeziehung verlorenging.
Agnes stellte die Holzteller zusammen. Sie nahm die Löffel und wischte mit einem Tuch über die Tischplatte. Als sie aufstand, liefen Tränen über ihre Wangen. Sie wollte nicht, daß Guntram sie sah.
Er stand ebenfalls auf und ging zu den Fenstern an der Seitenwand der Küche. Agnes blickte ihm verstohlen nach. Er hatte einen hellbraunen, mit Nußschalensud gefärbten Leinenkittel an. Das Hakenmesser steckte neben einem verschnürten Lederbeutel an seinem Gürtel. Jetzt sah er wie ein Mann aus.
»Ich werde die Fenster morgen ausbessern«, sagte Guntram mit einem Blick nach draußen.
»Hat das nicht Zeit? Jetzt kommen doch die schönen Monate ...«
Guntram nickte.
»Dennoch wird Meister Lamprecht nichts dagegen haben, wenn wir ihm ein ordentliches Haus als Gastgeschenk übergeben. Ich denke, daß wir hier wohnen können. Vielleicht nimmt er auch noch Ulf und seine Pflegetochter Lea bei sich auf.«
»Du meinst, daß unsere Familie in verschiedenen Häusern wohnen soll?« fragte sie erschreckt.
»Wir müssen alle etwas zusammenrücken, bis wir neue Häuser gebaut haben.«
»Und die Bankerts?«
Guntram hob die Schultern.
»Die könnten in Zelten zwischen der Linde und dem See leben. Wir haben in den Vorratskammern genügend Stoffballen, aus denen sich Zelte nähen lassen ...«
»Für fünfzig, siebzig oder gar hundert Menschen?«
Er drehte sich um.
»Vielleicht werden es viel weniger«, sagte er. »Das hängt davon ab, wie schnell ich Meister Albrecht finde ...«
»Was hast du vor?«
Er zeigte durch die Fenster auf die Hügel.
»Ich werde mich mal im Dorf umsehen. Vielleicht finde ich eine Möglichkeit, wie wir uns gegen die Bankerts schützen können. Außerdem will ich nach Meister Albrecht sehen.«
»Das ist verbotenes Gebiet«, sagte sie erschreckt. »Soweit darfst du nicht gehen!«
»Du vergißt die Pflege der Weinreben oberhalb der Gärten und der Felder. Der Clan von Meister Bieterolf konnte stets mit dem Privileg der Brauer und Winzer bis fast zur Teufelsmauer hinauf.«
»Aber wir doch nicht, Guntram! Wir gehören zu Meister Wolfram, oder hast du das etwa vergessen?«
Er schüttelte den Kopf.
»Mach dir keine Gedanken, Agnes! Ich weiß, was ich tun muß!«
»Ich komme nicht mit«, sagte sie leise.
Er überlegte eine Weile, dann fand er, daß es vielleicht besser so war.
»Also gut!« sagte er. »Ich muß jetzt gehen. Du könntest ja inzwischen anfangen, in allen Kesseln kräftige Fleischbrühe zu kochen. Vergiß die guten Heilkräuter nicht. Unsere Leute werden sehr erschöpft sein, wenn sie ankommen ...«
»Und wann kommst du zurück?«
»Ich will versuchen, Wasser bis zum Abendzeichen zu bringen. Das ist meine erste Aufgabe. Danach gehe ich zur Hütte von Meister Albrecht.«
Sie wußte, daß es keinen Sinn hatte, ihm zu widersprechen.
Zur gleichen Zeit erwachte Nancy McGowan aus einem langen, traumlosen Schlaf. Sie fühlte sich wie gerädert. Ihre Muskeln schmerzten, als hätte sie tagelang ohne Unterbrechung trainiert.
Trotzdem fühlte sie sich glücklich.
Sie hatte das geheimnisumwitterte Sakriversum unter dem hohen Dach der Kathedrale viel leichter erreicht, als sie es sich vorgestellt hatte. Vielleicht war ihr zugute gekommen, daß sie als Hochseilartistin und geübte Fassadenkletterin schneller Querverbindungen und hilfreiche Mauervorsprünge entdeckt hatte, als es anderen möglich gewesen wäre.
Hinzu kam das herrliche Gefühl, endlich allein zu sein. Seit ihrer Kindheit in den Labors und der Zeit, in der sie ihre Kunststücke Tausenden von neugierigen, sensationslüsternen Gaffern zeigen mußte, hatte sie eine panische Angst vor Menschen.
Sie fürchtete, daß jeder nur auf ein falsches Wort oder eine falsche Bewegung von ihr wartete. Sie wußte, daß sie
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