Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
der Mauerhöhlung.
»Ich schätze, du mußt noch einmal in den See«, sagte Guntram, als er ihr rußverschmiertes Gesicht und ihre schmutzigen Hände sah. Sie merkte, daß er sie nur ablenken wollte.
»Später!« sagte sie leise. Er merkte nicht, daß sie die Holzpuppe in der Mauer versteckt hatte.
»Dann komm!« meinte er abwesend. Sie gingen über die Dorfstraße. Zwischen den Grundstücken lagen faulende Lebensmittel und halbverweste Tierkadaver. Es waren fast nur Muttertiere ...
»Zwei Häuser sind so zerstört, daß niemand mehr in ihnen wohnen kann«, stellte Guntram fest. »Die anderen lassen sich wieder herrichten. Wahrscheinlich haben die Bankerts nach unserer Flucht einen Weg hierher gefunden. Sie müssen uns auf den geheimen Wegen nach unten gefolgt sein!«
Agnes antwortete nicht. Sie gingen in das westlichste Haus des Dorfes. Agnes fand sich in der Küche schnell zurecht. Sie legte Holzspäne in den Herd und entzündete sie mit ihrem Magnesiumstein.
Sie wusch sich unter dem Wasserrohr an der Küchenwand. Wenig später summte es in den ersten Kesseln. In Pfannen und Töpfen brutzelten Speckstreifen und Eingemachtes. Sie hatte Zwiebeln, Äpfel, Trockenfleisch und Mehl gefunden.
Während sie kochte, saß Guntram schweigend an einem Holztisch unter den östlichen Fenstern der Küche. Sanftes Sonnenlicht fiel durch getönte Butzenscheiben auf den Tisch. Er zeichnete mit einem Stück Blei Kreise, Linien und Dreiecke auf die Holzplatte.
»Wenn das hier das Sakriversum ist«, murmelte er nachdenklich, »dann muß die andere Seite ebenso groß sein. Aber dazwischen fehlt ein Stück ... genau an der Teufelsmauer oberhalb des Dorfes ...«
Er schnupperte und hatte plötzlich einen Riesenhunger. Agnes war nicht da, doch gleich darauf kam sie mit einem aus Stroh geflochtenen Korb zurück. Sie brachte frische Eier, jungen Löwenzahn für einen Salat und Erdbeeren mit.
»Der Garten ist vollkommen verwildert«, sagte sie. »Den Hühnern und den Schweinen hat unsere lange Abwesenheit nichts ausgemacht, aber andere Tiere habe ich nicht gesehen.«
Guntram nickte. Sie füllte zwei Teller mit Gesottenem und stellte sie auf den Tisch. Während sie mit spitzen Messern und den Fingern aßen, sprach Guntram über seine Zeichnung auf der Tischplatte.
»Das Sakriversum ist auf den Schrägen über den Gewölbebögen der Kathedrale errichtet worden. Wir leben auf der Südseite und die Nordseite müßte vom Prinzip her ähnlich aussehen. Doch genau da stimmt etwas nicht!«
»Haben wir jetzt keine anderen Sorgen?« meinte Agnes unwillig .
Guntram schob seinen Teller zurück.
»Wenn die Teufelsmauer nicht massiv ist ...«, überlegte er.
»Was kümmern uns die Geheimnisse der Logenmeister? Wir müssen zusehen, daß wir das Dorf wieder in Ordnung bringen. Das ist jetzt wichtiger als alles andere! Die Saat steht an, außerdem müssen wir uns um die Tiere kümmern ...«
»Du vergißt die Bankerts! «
Agnes schüttelte den Kopf.
»Keineswegs! Aber ich würde gern wissen, was Meister Wolfram dir wirklich aufgetragen hat.«
»Das ... das darf ich dir nicht sagen!«
Sie blickte ihn schweigend an.
»Bin ich nicht jetzt deine Frau?«
Guntram preßte die Lippen zusammen. Unwillkürlich nahm er das Bleistück und strich die Linien auf der Tischplatte durch. Offensichtlich fühlte er sich überhaupt nicht wohl in seiner neuen, ungewohnten Rolle. Das hatte nichts mit der vergangenen Nacht zu tun, sondern mit den für andere unhörbar gebliebenen Worten von Meister Wolfram.
Guntram war sich darüber klar, daß er keine richtige Weihe erhalten hatte, aber er war ein Logenmeister - jedenfalls ein dafür vorgesehener. Solange Meister Wolfram und die anderen Clan-Chefs nicht im Sakriversum waren, war er der Erbe eines großen Vermächtnisses - das er noch nicht kannte.
Nicht jeder Clan-Chef wurde Logenmeister. Die Oberhäupter der zwölf Schander -Familien waren jeden Samstag nach der Arbeit im Buch-Heim zusammengekommen. Während Männer, Frauen und Kinder, die noch nicht schlafen mußten, sich unter der Linde auf der Wiese am See einfanden, hatten die zwölf Dorfältesten hinter dicken Mauern und verschlossenen Türen die Nacht auf den Sonntag verbracht.
Niemand außer ihnen hatte jemals erfahren, was die Clan-Chefs in diesen Nächten taten. Und nur drei von ihnen galten in jeder Generation als Logenmeister, die alle Geheimnisse des Sakriversums kannten. Vor der letzten Flucht in die Bleikeller waren das Meister Wolfram und
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