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Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Titel: Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas R. P. Mielke
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jahrelang sogar im Schlaf beobachtet worden war. Menschliche Ungeheuer in weißen Kitteln hatten ihr ständig Blut abgezapft. Andere, mit grünen Kitteln und Gazemasken, Kopfhauben und Gummihandschuhen hatten sie immer wieder auf Untersuchungstischen festgeschnallt. Die Hölle der Infusionsschläuche, Kanülen, OP-Scheinwerfer und fahrbaren Foltergeräte mit Elektroden, zuckenden Registrierstiften und böse blinkenden Leuchtpunkten hatte sie seit ihrer Geburt Tag und Nacht verfolgt.
    Sie war kein Mensch gewesen, sondern eine genetische Abnormität, die Stoff für Dutzende von Doktorarbeiten hergab. Selbst wie sie spielte, hatte die Schemen hinter den einseitig verspiegelten Beobachtungsfenstern bestenfalls wissenschaftlich interessiert ...
    Sie wollte nicht mehr daran denken, wie oft sie vergeblich versucht hatte, den Schwätzern mit Professorentiteln zu entkommen. Ihre allzeit dienstbereiten Vasallen hatten sie immer wieder aufgespürt und eingefangen.
    Jetzt fühlte sie sich zum erstenmal in ihrem Leben wirklich frei. Sie hatte Hunger, aber niemand schrieb ihr vor, welchen Chemiebrei sie essen mußte. Sie fror, doch keine Sensorplatte an ihrer Haut sorgte für Klimaänderungen in einem Brutkasten. Sie hätte schreien können, ohne daß sich sofort Professorengesichter in besorgte Falten legten ...
    Sie machte ein paar Lockerungsübungen. Dann sprang sie auf. Ihr fiel ein, daß sie sich am Vorabend in eine Nische zwischen den Mauern verkrochen hatte. Vorsichtig und gleichzeitig gespannt erkundete sie den höhlenartigen Raum.
    Einige Meter entfernt fiel buntgedämpftes Licht auf staubige Steinblöcke. Sie hatte in den siebzehn Jahren ihres ständig überwachten und registrierten Lebens gelernt, daß ein Meter für sie die achtfache bis neunfache Entfernung wie für normalgewachsene Menschen war. Der gleiche Faktor galt für alle anderen Maße.
    Ein Teelöffel war für sie eine Schaufel, ein Spatz ein Albatros und Bassets Elefanten. Wenn sie sich im Freien bewegte, hatten Regentropfen wie nasse Waschlappen und von Bäumen fallende Nüsse wie Schlagbälle wirken können. Es gab noch viele andere Kleinigkeiten, die ihr das Leben schwer gemacht hatten: Fliegen, Spinnen und Käfer gehörten dabei zu geringsten Übeln. Weitaus schlimmer waren die groben Finger der Menschen gewesen, die sie anfassen und streicheln wollten, ihr sturmartig schnaufendes Atmen und ihr schmerzhaft lärmendes Gelächter ...
    Nancy kletterte bis zu den bunten Lichtflecken hinter den Mauerdurchbrüchen. Sie erinnerte sich wieder daran, wie sie durch eine zersplitterte Scheibe in ihre Höhle gekrochen war. Das Glas des Rosettenfensters war mit einer chemischen Schutzschicht versiegelt gewesen. Nur deshalb hatten wohl die meisten der alten Scheiben die Druckwelle des Neutronenblitzes heil überstanden.
    Nancy wußte eine Menge über die Zivilisation, die nun nicht mehr existieren konnte. Durch die vielen Labortests, in denen auch ihre geistige Leistungsfähigkeit ständig überprüft worden war, hatte sie mehr erfahren als andere in ihrem Alter.
    Sie wußte, daß ihr Herz schneller schlug, ihr Blutdruck, ihre Körpertemperatur und ihr Grundumsatz höher waren als bei normalen Menschen. Doch auch ihr Intelligenzquotient lag mit 185 weit über dem Durchschnitt.
    Durch ihre Privatlehrer hatte sie viel gelernt. Als Corvay sie im Alter von zwölf Jahren aus den Labors geholt hatte, konnte sie mehrere Diplome vorweisen. Sie war B.A ., M.A. und Ehrendoktor der Yale University in New Haven, Connecticut.
    Das alles hatte sie nicht davor bewahrt, Corvays Sklavin zu werden. Gut zwei Jahre lang war sie mit seiner Truppe von Zirkuszelt zu Zirkuszelt gezogen. Sie war in Las Vegas aufgetreten und in den teuren Clubs von New York. Dann hatte sie Jan kennengelernt und mit ihm eine eigene Truppe gegründet. Das war vor drei Jahren gewesen ...
    Sie näherte sich dem oberen Segment des riesigen Rosettenfensters. Über der Stadt standen keine Rauchwolken mehr. Dafür hatten sich weitere Straßen mit Wasser gefüllt. Sie sah, wie ein winziges, schrankförmig aussehendes Boot tief unter ihr über eine der ehemaligen Ausfallstraßen trieb.
    Als sie zur Seite sah, zuckte sie zusammen.
    Corvay!
    Nancy konnte nur mühsam einen Aufschrei unterdrücken. In panischer Angst floh sie in die Dunkelheit zurück. Ohne zu denken kletterte sie über Verstrebungen, Mauervorsprünge und staubige Balken.
    Sie hätte nie gedacht, daß Llewellyn Corvay mit all den vielen ausgehungerten

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