Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
sie leise. Sie standen am Ufer des kleinen, stillen Sees und genossen das warme Licht der Sonne.
»So müßte es immer sein ...«
Guntram nickte. Doch er ahnte, daß es nicht so bleiben konnte. Er und Agnes hatten das Sakriversum erreicht, aber was war mit all den anderen. Würden sie es schaffen? Und wenn sie tatsächlich kamen, wie sollte er sich dann verhalten?
Er dachte an das zurück, was Meister Wolfram ihnen aufgetragen hatte. Sie sollten das Sakriversum und das innere Geheimnis schützen. Aber wie?
»Komm, laß uns schwimmen!« sagte Agnes. »Danach mache ich uns Frühstück, während du dir das Dorf ansehen kannst. Wir haben viel zu tun ...«
Guntram nickte. Sie gingen zum Wasser. Es war kalt und erfrischend. Nachdem sie sich wieder angezogen hatten, betraten sie das Dorf.
Plötzlich blieb Guntram stehen. Sie hatten die Linde am Dorfteich noch nicht erreicht. Guntram sah nach Osten. Er wurde plötzlich blaß.
»Was ist?« fragte Agnes.
»Das Haus! Unser Haus ...«
Jetzt sah auch Agnes, was Guntram vor ihr entdeckt hatte. Sie standen neben einer kleinen Stützmauer, die einen der Schuppen mit den Wasserrädern gegen den Bach schützte.
»Mein Gott«, sagte Agnes entsetzt, als sie die ausgebrannte Ruine am östlichen Dorfrand erkannte. »Das war unser Heim ...«
Guntram lief los, viel schneller, als Agnes ihm folgen konnte. Er bog am Turm in die Dorfstraße ein. Seine Schritte wurden langsamer. Er keuchte, dann blieb er mit hängenden Armen stehen. Wortlos starrte er auf die ausgebrannte Ruine. Erst als er Agnes’ Schluchzen hinter sich hörte, stöhnte er auf. Er nahm sie in den Arm.
»Nicht weinen, Agnes! Es sind noch andere Häuser da! Wir können überall im Dorf leben!«
Agnes schüttelte den Kopf. Sie löste sich von ihm und ging auf den Vorgarten zu. Das Gatter hing schräg in den Scharnieren.
»Paß auf, Agnes!«
Sie hörte ihn nicht. Wie in Trance kletterte sie über verkohlte Holzbalken. Dort, wo früher ihr Zimmer gewesen war, stand nur noch der gemauerte Alkoven. Sie kletterte über schwarzverbrannten Schutt, kroch unter schrundig verkohlten Dachbalken hindurch und holte mit bloßen Händen verschmortes Bettzeug aus dem Alkoven, in dem sie und ihr Bruder geschlafen hatten.
Ganz unten fand sie die Puppe, die einst ihr Vater geschnitzt hatte. Die Puppe war nicht verbrannt. Dicke Schichten Bettzeug hatten sie geschützt.
Agnes lachte und weinte gleichzeitig, als sie die Puppe mit einem Zipfel ihres Rockes abwischte.
»Sie ist noch da!« rief sie Guntram zu.
»Die Zeit der Spiele ist vorbei«, sagte er ernst. »Wir müssen lernen, daß wir nicht mehr so sind wie früher! Nichts mehr kann jemals wieder so sein ...«
»Darf ich denn nicht einmal mehr traurig werden?«
Sie blickte ihn an. So hatte er noch nie gesprochen. Irgendwie klang das, was er sagte, härter, entschlossener und kälter. Er war ein Mann geworden. Mit leiser Wehmut erkannte sie, daß die Zeit der Träume tatsächlich vorbei war. Obwohl auch sie ihn jetzt anders als eine Schwester liebte, mußte sie sich erst an den Gedanken gewöhnen, seine Frau zu sein ...
Während Guntram einmal um das Haus ging, überlegte Agnes, wo sie die Puppe sicher aufbewahren konnte. Es hatte keinen Sinn, sie mit sich herumzuschleppen.
Ihr Blick fiel auf das aus Metall gegossene, kreisrunde Familien-Zeichen der Alchimisten an der Giebelwand. Sie wußte, daß in bestimmten Neumondnächten zerstampfte und mit seltenen Erden vermischte Kräuter in die Mauerhöhlung hinter dem Familien-Zeichen gelegt worden waren. Ihr würziger Geruch sollte das Ungeziefer und ungesunde Luft von den Bewohnern des Hauses fernhalten.
Guntram war noch hinter dem Haus. Kurz entschlossen trat Agnes vor das Familienzeichen. Zwischen geheimen Symbolen und einem blinkenden Dreieck aus weißen Kristallen leuchtete in hellem Violett ein echter Amethyst-Quarz.
Jede Familie im Sakriversum hatte einen anderen Stein in ihrem Wappen. Sie bildeten eine Erinnerung an die zwölf Stämme Israels und an die Steine der Apokalypse im Fundament der neuen Mauer Jerusalems. Außer dem Amethysten ihrer Familie gab es noch Jaspis, Saphir, Chalzedon, Smaragd und Sardonyx bei den Familien oberhalb der Straße. Die Clans auf der anderen Seite trugen Sarder, Chrysolith, Beryll, Topas, Chrysopras oder einen Hyazinth in ihrem Wappen.
Agnes hörte, daß Guntram wiederkam. Schnell löste sie den Amethyst und nahm das runde Zeichen ab. Sie legte ihre Puppe auf eine Schicht Kräuterstaub in
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