Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
Dokuments und strich dabei fast zärtlich mit den Fingerkuppen über des Kaisers Siegel. »Unglaublich, dass ein einzelnes Schriftstück die Geschicke einer ganzen Stadt verändern kann«, murmelte er.
»Unglaublich würde ich das nicht nennen«, meinte Fabre. »Hat uns immerhin eine Stange Geld gekostet, dieser Fetzen Pergament.« Doch er sagte das ohne jede Bitterkeit – in Wahrheit war auch er überglücklich. »Sei’s drum«, dröhnte er fröhlich. »Gebt mir mehr Wein. Mit Kaisern zu feilschen macht mich immer schrecklich durstig!«
Die anderen lachten und stießen mit ihm an. Michel fiel es schwer, die Freude seiner Gefährten zu teilen. Immerzu musste er an die Audienz in der Aula denken. Männer für Barbarossas Kreuzzug … Am meisten machte ihm zu schaffen, dass er nichts dagegen unternommen hatte, obwohl die freiwillige Teilnahme an einem Krieg all seinen Überzeugungen widersprach. Aber Fabre hatte ihn einfach überrumpelt.
»Was machst du denn für ein Gesicht?«, erkundigte sich Jean. »Wir haben gewonnen, falls es dir noch nicht aufgefallen ist. Du kannst dich freuen.«
»Wir wollen dreißig Männer in den Krieg schicken. Viele werden nicht zurückkehren, selbst wenn Barbarossa siegreich ist. Du weißt, was ich von Gewalt und Blutvergießen halte. Wir hätten das nicht tun dürfen. Das ist die Brücke nicht wert.«
»Ich nehme nur Freiwillige mit«, sagte Fabre. »Niemand wird gezwungen. So kann jeder selbst entscheiden, ob er die Gefahr auf sich nehmen will.«
»Und Ihr seid sicher, dass Ihr genug Freiwillige finden werdet?«, fragte Michel zweifelnd.
»Und ob. Viele Männer sehnen sich danach, einmal das Heilige Land zu sehen und mit dem Schwert für ihren Glauben einzustehen. Nehmt nur mich. Ich würde bereitwillig mein Leben geben, um Jerusalem für die Christenheit zurückzugewinnen.«
»Ich auch«, murmelte Jean.
Michel starrte seinen Bruder an. Seit ihrer Auseinandersetzung vor zwei Wochen hatte Jean kein Wort mehr über den Kreuzzug verloren, und Michel hatte gedacht, er hätte sich diese törichte Idee aus dem Kopf geschlagen. »Fang nicht wieder damit an. Du wirst auf keinen Fall mit auf den Kreuzzug gehen. Denk nicht einmal daran!«
»Ich werde Raymond begleiten«, erwiderte Jean stur. »Ob es dir passt oder nicht.«
»Du bist unmündig. Ich entscheide, was du tust und wohin du gehst.«
»In ein paar Monaten werde ich mündig. Dann mache ich, was ich will! Und du kannst mich nicht daran hindern!«
»Das werden wir ja sehen«, knurrte Michel.
»Hört auf zu streiten«, mischte sich Catherine ein. »Sorgen und düstere Gedanken heben wir uns für später auf. Jetzt sollten wir endlich feiern!«
»Mir ist nicht nach Feiern zumute«, murrte Michel.
»Das haben wir gleich. Hier, trinkt!«, rief Duval und drückte ihm einen Weinbecher in die Hand. »Auf unseren Sieg!«
»Es ist Michels Sieg«, sagte Catherine. »Ohne ihn, seinen Einfallsreichtum und seine nie versiegende Zuversicht wären wir nie so weit gekommen. Auf Michel!«, rief die Kauffrau.
»Auf Michel!«, brüllten die anderen, und Michel musste unwillkürlich lächeln.
»Ihr habt ja recht. Ich bin manchmal ein schrecklicher Schwarzseher … He! Was macht ihr da?«
Fabre, Duval und Jean ergriffen seine Arme und Beine und hoben ihn auf ihre Schultern. »Hoch lebe der Gildemeister – er lebe hoch!«, riefen sie und trugen ihn durch die Zeltstadt. Michel verschüttete seinen Wein und besudelte sich von oben bis unten, er lachte und reckte die Arme in die Höhe und vergaß wenigstens für diese eine Nacht seine Sorgen.
Mai 1188
V ARENNES -S AINT -J ACQUES
W artet hier«, sagte Michel zu Yves und Gérard. Er öffnete das schmiedeeiserne Tor, betrat den kleinen Gottesacker seiner Pfarrkirche und folgte dem Pfad zwischen den Grabsteinen.
Die drei Birken standen in voller Blüte. Auch die Kletterpflanzen auf der verwitterten Mauer und das Dornengestrüpp hinter den Beinhäusern erstrahlten in saftigem Grün. Es duftete süß, nach Frühling und Leben, und die Sonne glitzerte in den Baumkronen. Vor dem Grab seines Vaters blieb er stehen und nahm die Mütze ab. Er war ganz allein auf dem Friedhof an diesem warmen Maimorgen.
Normalerweise kam er jede Woche hierher und berichtete seinem Vater von seinen Erlebnissen, vertraute ihm seine Sorgen an, bat ihn um Beistand. Seit dem Hoftag in Hagenau jedoch hatte er keine Zeit für seine lieb gewordenen Gänge zum Friedhof gefunden. Jeden Tag saß er von früh bis spät in der
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