Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
dem Salzschiff nach Trier hatten fahren können. In den vergangenen zehn Monaten hatten sie beinahe doppelt so viel Geld verdient wie im Jahr davor, und die harten Wochen nach der Fehde, als sie jeden Denier zweimal hatten umdrehen müssen, erschienen Michel inzwischen wie ein ferner, unwirklicher Albtraum.
Seinen Freunden und den anderen Mitgliedern der Gilde war es ähnlich ergangen. Sie alle hatten sich rasch von der Fehde erholt und mit ihren Gewinnen aus dem Handel die Schäden an ihren Besitztümern behoben und die klaffenden Löcher in ihren Kassen gestopft. Sogar Fromony Baffour, der während der Kämpfe einen großen Teil seiner Habe verloren hatte, reiste wieder zu fernen Märkten und handelte mit Salz, Tuch und Gewürzen, nachdem er mit der Hilfe der Gilde sein Geschäft neu aufgebaut hatte.
Bei alldem hatte Michel seinen Traum nicht vergessen. Die Brücke war erst der Anfang – er wollte mehr für Varennes, viel mehr, nun, da die Gilde bewiesen hatte, dass sie stark genug war, ihren Gegnern zu trotzen. Doch er durfte nichts überstürzen. Seine Schwurbrüder brauchten Zeit. Im vergangenen Jahr hatten sie große Opfer gebracht; sie waren der Politik müde. Er konnte und wollte nicht von ihnen verlangen, schon wieder für die Gilde zu kämpfen und dabei ihre Geschäfte zu vernachlässigen. Sollten sie die Ruhe und ihren neuen Wohlstand eine Weile genießen. Wenn sie sich in einem oder zwei Jahren für Sitze im Schöffenkollegium oder eine Befreiung von den Marktzöllen starkmachten, war das früh genug.
Sorge bereitete Michel lediglich die Stadtmauer. Obwohl die Fehde bewiesen hatte, dass Varennes Angriffen schutzlos ausgeliefert war, weigerte sich Bischof Ulman weiterhin beharrlich, sie zu erneuern . Wenn er von sich aus nichts unternimmt, müssen wir ihn eben dazu zwingen, dachte Michel mit Blick auf die zerfallenen Mauern und Türme. Es kann nicht sein, dass wir wehrlos sind, nur weil er die Kosten scheut …
»He!«, sagte Vivienne. »Ich rede mit dir.«
»Entschuldige. Ich war in Gedanken.«
»Das habe ich gemerkt. Hilfst du mir mal mit dem Kleinen?«
Bernier und Jean waren bereits vorausgegangen. Michel hielt Étienne fest, während seine Schwester das Tragetuch öffnete. Er setzte seinen Neffen ab, woraufhin der kleine Mann beherzt seinem Vater folgte.
»Wie gut er schon laufen kann!«
»Er lernt sehr schnell.« Vivienne strahlte. »Neulich hat er sein erstes Wort gesprochen.«
»Was war es? ›Mutter‹? ›Vater‹?«
»›Salz‹.«
Michel lachte. »Das ist nicht wahr.«
»Doch. Ich war mit ihm unten, als Bernier den Wagen beladen hat. Er zeigte auf die Fässer, und da hat er es gesagt.«
»Er weiß eben, worauf es im Leben ankommt. Er wird mal ein guter Kaufmann.«
Étienne watschelte den Weg entlang, stolperte und schlug der Länge nach hin. Michel erwartete, dass er lauthals losbrüllen würde, doch sein Neffe schluchzte nicht einmal. Kaum war er mit Viviennes Hilfe aufgestanden, watschelte er unerschrocken weiter.
»Ein zäher kleiner Kerl«, sagte Michel.
»Ja, das ist er.«
»Nicht so eine Heulsuse wie seine Mutter in dem Alter.«
»Ich war keine Heulsuse!«, protestierte Vivienne.
»Doch, warst du.« Michel grinste. »Und wie. Als wir aus Fleury geflohen sind, hast du ununterbrochen geweint. Beinahe hätten uns deinetwegen de Thessys Kriegsknechte gefunden.«
»Das erfindest du nur.«
»Frag Jean.«
Sie boxte ihm auf die Schulter.
»Au! Kein Grund, mich zu schlagen!«
»Ha! Wer von uns beiden ist jetzt die Heulsuse, na?«
Vivienne raffte ihre Röcke und ergriff die Flucht. Michel setzte ihr nach und jagte sie über die Wiese, während Étienne am Straßenrand stand und vergnügt kicherte.
Am frühen Abend, als sie von ihrem Spaziergang wieder zurück waren, sah Michel noch einmal nach Adrien. Der Pferdeknecht lag in seinem Bett in der Gesindekammer und schlief unruhig, das Gesicht und die Brust schweißnass. Seit Tagen ging es ihm sehr schlecht. Er war vor einigen Wochen draußen bei der Richtstätte von einem Straßenköter angefallen und ins Bein gebissen worden. Obwohl Michel sofort einen Wundarzt geholt hatte, der die Bisswunde gründlich ausbrannte, steckte sich Adrien mit der Hundswut an. Der Pferdeknecht bekam Fieber und brennende Schmerzen in den Gliedern und litt an Krämpfen, die bald so schlimm wurden, dass er nichts mehr essen und trinken konnte. Sein Zustand verschlechterte sich von Tag zu Tag.
»Hat der Medicus nach ihm gesehen?«, erkundigte sich
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