Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
nicht. Er hatte ihr Freundschaft entgegengebracht, als alle Welt sie verachtete; er hatte Rémy herzlich in seinem Leben begrüßt und liebte ihn wie seinen eigenen Sohn. Nein, sie konnte diesen Mann nicht hassen. Wer war sie, andere für ihre Bedürfnisse zu verurteilen? Auch sie hatte gesündigt, hatte Gottes Gesetz verletzt, weil sie auf ihrem Recht beharrte, zu lieben, wen sie wollte. Sie wusste, wie es sich anfühlte, wenn man für seine Gefühle bestraft und geächtet wurde.
Sie blieb bis zum Vormittag bei der Quelle. Als sie schließlich zum Hof ritt, gab sie vor, sie sei eben erst von Speyer zurückgekehrt. Sie hatte beschlossen, Thomasîn nicht auf ihre nächtliche Beobachtung anzusprechen. Sie hatte ihre Geheimnisse – er durfte seine haben.
Sie sprach mit niemandem über Thomasîns Neigungen, nicht einmal mit Michel. Die Kirche und die weltlichen Obrigkeiten bestraften Sodomie grausam. Ein falsches Wort zur falschen Zeit konnte Thomasîn das Leben kosten.
So hatte sie es all die Monate gehalten.
Nun aber wusste Thomasîn, dass sie ihn mit Winand gesehen hatte.
Sie legte den erschöpften Rémy in der Stube hin, setzte sich in die Küche und wartete. Thomasîn kam wenig später zu ihr.
»Was du gesehen hast …«, begann er.
»Du musst mir nichts erklären. Ich weiß es schon lange.«
»Erzähl niemandem davon. Bitte.«
Sie nickte.
»Habe ich dein Wort?«, fragte er rau.
»Natürlich. Wer weiß noch davon? Boso? Die Mägde?«
»Ich glaube, sie wissen es. Aber sie würden mich niemals verraten. Sie verdanken mir zu viel.« Sowohl Boso als auch die beiden Frauen hatten in bitterer Armut gelebt, bevor Thomasîn sie zu sich geholt hatte. Er bezahlte und behandelte sie gut. Sie hatten wahrlich keinen Grund, ihn bei der Obrigkeit anzuschwärzen.
Er trat ans Fenster, blickte über die Felder. »Verabscheust du mich jetzt?«
»Warum sollte ich? Du kannst nichts für deine Neigungen.«
»Was ich fühle, ist eine Abscheulichkeit vor Gott und den Menschen«, murmelte er, und das leise Zittern in seiner Stimme erzählte von endlosem Leid, von Selbsthass, Verzweiflung und Furcht.
»Wenn das so wäre, hätte Gott dich nicht so erschaffen.«
»Vielleicht ist es nicht Gott, der dieses Verlangen in mir entfacht.«
»Hör auf damit«, sagte Isabelle. »Du bist, wie du bist. Hasse dich nicht dafür. Und kümmere dich nicht um das, was die Pfaffen sagen.«
Lange stand er da, bevor er nickte und davonschritt. In der Küchentür drehte er sich noch einmal zu ihr um. »Hab Dank, Isabelle«, sagte er. »Du bist die weiseste Frau, die ich kenne.«
Plötzlich verspürte sie solche Zuneigung zu diesem stoischen, schweigsamen Mann, eine derart tiefe Verbundenheit, dass sie ihm all ihre Geheimnisse anvertrauen wollte: dass sie immer noch Michel liebte. Dass sie ihm regelmäßig schrieb. Dass sie ihn heimlich traf.
»Thomasîn«, sagte sie, als er gehen wollte. »Du … solltest etwas wissen.«
»Dein Leben gehört dir allein. Was außerhalb dieses Hauses geschieht … oder draußen an der Quelle … geht mich nichts an.«
Er schritt davon.
Isabelle atmete tief ein und sank auf einen Hocker.
November 1191
M ETZ
A ristide de Guillory war wahrlich der Letzte, der sich über einen guten Krieg beklagte. Das alltägliche Einerlei des Friedens langweilte ihn. Er fühlte sich nur dann richtig lebendig, wenn die Panzerreiter mit eingelegten Lanzen aufeinanderzudonnerten, wenn die Schwerter klirrten und er im Gewühl der Feinde Hiebe parierte und tödliche Streiche austeilte. Folglich hatte er die Fehde Herzog Simons gegen den aufsässigen Grafen von Bar in vollen Zügen genossen – zumindest während der ersten Wochen. Doch als sich der Konflikt in die Länge zog und es selbst nach der dritten Belagerung, der fünften Feldschlacht keinen Sieger gab, wurde der Feldzug allmählich zu einer lästigen und mühseligen Pein, und die Monate zogen sich quälend langsam dahin.
So war er heilfroh, als sein Lehnsherr und Thiébaut von Bar zu Allerheiligen endlich ihren Zwist beilegten und Frieden schlossen. Aristide hatte fürs Erste genug von stinkenden Heerlagern, schlammigen Schlachtfeldern und Gefechten im Nieselregen. Er sehnte sich nach der Behaglichkeit seiner Burg und nach seinen drallen Mägden.
Simons Streitmacht zog von Bar nach Metz, wo sie sich allmählich auflöste. Aristide durfte noch nicht nach Hause gehen, denn der Herzog hatte ihm zu verstehen gegeben, er habe noch etwas mit ihm zu bereden. Also übte er
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