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Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)

Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Wolf
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die übrigen Schwurbrüder, Handwerker aus den verschiedensten Bruderschaften, ehemalige Kreuzfahrer. Die Bahre erschien Michel unendlich schwer, und mehr als einmal fürchtete er, unter der Last zusammenzubrechen. Doch als er sah, wie viele Menschen gekommen waren, um von seinem Bruder Abschied zu nehmen, fand er einen letzten Rest Kraft in sich, hob den Kopf und bezwang seine Erschöpfung. Mehr als zweihundert Leute waren es, die Jean zur Kirche Saint-Pierre geleiteten, und viele weinten, denn sie hatten mit Jean einen treuen Freund und Weggefährten verloren und konnten nicht fassen, dass er so früh von ihnen gegangen war.
    Die Menge war derart groß, dass das Gotteshaus sie nicht gänzlich aufnehmen konnte. Viele Menschen mussten draußen warten, während Michel, Duval, Le Roux und Tolbert Jeans Bahre vor dem Altar aufstellten und Pater Jodocus die Totenmesse zu lesen begann. Als die Ministranten das Requiem anstimmten, fing Adèle wieder an zu weinen. Einer ihrer Brüder nahm ihr Azalaïs ab, Michel schloss die junge Frau in die Arme und ließ sie bis zum Ende des Gottesdienstes nicht mehr los. Der Weihrauch legte sich wie ein Gespinst aus Gaze über seine Gedanken und machte sie seltsam leicht, sodass er sich einmal mehr fragte, ob all das wirklich geschah oder nur in seiner Einbildung stattfand. Die Gebete, die Psalmen, die ganze Liturgie – es waren nur Worte, leer, gewichtslos, ohne Bedeutung. Michel blickte zu den Buntglasfenstern auf, durch die die Herbstsonne rote, blaue und gelbe Strahlen sandte, und er fragte sich, ob Jeans Seele bereits zum Himmel hinaufstieg und auf seinem langen Weg zu Gottes Thron auf sie herabblickte.
    Gewiss lächelt er, wenn er sieht, was wir für ein Aufhebens um ihn machen.
    Michels Mundwinkel zuckten, und er wusste nicht, ob ihn dieser Gedanke glücklich machte oder mit Grauen erfüllte.
    Schließlich war die Messe zu Ende, und sie trugen Jean nach draußen auf den Kirchhof. Die Trauergemeinde versammelte sich unter den ausladenden Ästen der drei uralten Birken und drängte sich um das Grab, das der Totengräber in der Morgendämmerung ausgehoben hatte. Es befand sich neben der letzten Ruhestätte ihres Vaters, denn so hätte Jean es gewollt. Neben dem Loch lag ein Haufen frischer Erde, aus dem zwei gelbe, zersplitterte Rippenknochen ragten, die Überreste eines längst vergessenen Toten. Dahinter stand der Totengräber auf seine Schaufel gestützt, ein kleiner, drahtiger Mann mit verfilztem Haar und schmutzigem Gesicht, der auf einem Stück Knorpel herumkaute.
    Michel und seine Gefährten ließen Jean behutsam in die Grube gleiten; Pater Jodocus ergriff die Schaufel des Totengräbers und warf etwas Erde hinein. Als die klebrigen Lehmkrumen auf das Leichentuch rieselten, wurde Michel mit einem Mal klar, was hier geschah. Es war falsch, schrecklich falsch, ein ungeheures Missverständnis, er wollte zu Pater Jodocus laufen und ihm die Schaufel wegnehmen, doch Adèles Brüder hielten ihn fest. Michel hörte Schreie und begriff, dass er es war, der sie ausstieß. Mit einem Mal verließ ihn all seine Kraft, er sank auf seine Knie und weinte, weinte um seinen Bruder, den ein sinnloses Schicksal aus dem Leben gerissen hatte.
    Irgendwann später, als sich die Trauergemeinde längst aufgelöst hatte und die Familie mit ihren Nachbarn und Freunden zum Totenmahl nach Hause gegangen war, stand Michel immer noch am Grab. Er hatte die anderen gebeten, vorauszugehen und nicht auf ihn zu warten, denn er wollte bleiben, bis er verstanden hatte, bis er Antworten gefunden hatte auf die zahllosen Fragen, die ihn quälten.
    Es hatte angefangen zu regnen, eisige Tropfen prasselten auf die Kapuze seines Mantels, doch er spürte sie kaum. Auch der Totengräber hatte sich in seinen Mantel gehüllt; mit geübten Bewegungen trieb er die Schaufel in den Haufen und schippte die feuchte Erde in die Grube.
    »Ihr solltet nach Hause gehen, Herr«, sagte er. »Bei dem Mistwetter holt Ihr Euch noch den Tod.«
    »Ich bleibe noch«, meinte Michel.
    »Wie Ihr wollt. Aber erwartet nicht, dass ich Euch Gesellschaft leiste. Sowie ich hier fertig bin, geht’s in die Schenke, wo mich ein Becher heißen Würzweins erwartet. Mein Wort drauf.«
    »Trink einen für mich mit.« Michel schnippte ihm einen Denier zu. »Und einen für meinen Bruder.«
    »Mach ich, Herr. Der heilige Jacques möge Euch segnen.«
    Michel hörte das Klappern von Hufen und wandte sich um. Jenseits der Friedhofsmauer zügelten zwei Männer ihre

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