Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
verabschieden. Niemand wusste, wohin er gegangen war, weder die Bruderschaft der Weber noch der Priester seiner Pfarrei.
Eine Stunde später saß Michel in einer Schenke am Stadttor, trank einen Krug Wein und brütete über den Ergebnissen seiner Nachforschungen. Warum hatte Jean sich für einen Wollweber interessiert? Hatte ihn dieser Conon bei einem Geschäft betrogen? Aber Jean hatte doch gar keine Tuche, Decken oder dergleichen gekauft. Und doch deutete einiges darauf hin, dass Conon etwas mit Jeans Tod zu tun hatte. Dass er die Stadt kurz darauf so überstürzt verlassen hatte, konnte kein Zufall sein.
Michel blieb einige Tage in Metz und versuchte, mehr über Conon und die Ereignisse der Mordnacht herauszufinden – ohne Erfolg. Die Stadtbüttel wiesen ihn harsch ab, und keine Menschenseele konnte ihm sagen, was aus Conon geworden war. Es schien, als hätte sich der Erdboden aufgetan und den Wollweber verschluckt.
Nach einer knappen Woche schließlich ritt Michel nach Varennes zurück.
Er würde nie herausfinden, was seinem Bruder widerfahren war. Jeans Tod würde für immer ein Rätsel bleiben.
November 1193
V ARENNES -S AINT -J ACQUES
M ichel öffnete die Tür der Gildehalle, schlug seine Kapuze zurück und wischte sich die Regentropfen aus dem Gesicht. »Ist der Gildemeister da?«, fragte er einen Kleinkrämer, der gerade die Treppe herunterkam.
»Er ist in seiner Amtsstube«, ließ ihn der Mann wissen.
Michel durchquerte den Versammlungssaal und betrat die kleine Kammer im rückwärtigen Teil. Der Regen trommelte gegen die Butzenscheibe. Guibert de Brette tropfte gerade Wachs auf ein Dokument und drückte das Gildensiegel hinein.
»Ihr wünscht, Herr de Fleury?«
»Ich möchte den Platz meines verstorbenen Bruders in der Gilde einnehmen.«
In aller Seelenruhe legte de Brette Wachs, Kerze und Siegel zur Seite und lehnte sich zurück, was den Stuhl knarren ließ. Er war kein schöner Mann. Ein breiter Mund mit fleischigen Lippen beherrschte das feiste Gesicht; dünne, graue Haare klebten an seiner Stirn, die goldene Halskette und die kostbaren Ringe an seinen Fingern verstärkten den allgemeinen Eindruck von unchristlicher Dekadenz und geradezu obszönem Reichtum. »Was verleitet Euch zu der Annahme, ich würde Euch dies gestatten?«, fragte er, und seine kleinen Augen glitzerten.
»Ohne die Mitgliedschaft kann ich das Familiengeschäft nicht weiterführen.«
»Das ist mir durchaus klar, Herr de Fleury. Aber wie Ihr wisst, hat mein Vorgänger – Gott hab ihn selig – Eure Aufnahme an eindeutige Bedingungen geknüpft. Erst wenn Ihr Euch mit einer Pilgerfahrt zum Heiligen Grab von Euren Sünden reingewaschen habt, seid Ihr würdig, der Gilde abermals beizutreten.«
Michel hatte damit gerechnet, dass de Brette ihm Steine in den Weg legen würde. Aber das war einfach lächerlich. »Das kann nicht Euer Ernst sein«, sagte er barsch.
»Ich pflege nicht zu scherzen«, erwiderte de Brette ruhig.
»Als Géroux mir diese Bedingung diktierte, war er mein Feind. Aber kurz vor seinem Tod hat er mir vergeben.«
»Davon weiß ich nichts. Herr Géroux hat seine Entscheidung sogar schriftlich niedergelegt – ich kann Euch die Urkunde heraussuchen, wenn Ihr dies wünscht. Hätte er seine Meinung geändert, hätte er sie gewiss vernichtet, meint Ihr nicht auch?«
»Er war dazu nicht mehr in der Lage. Die Rote Ruhr hat ihn urplötzlich heimgesucht.«
»Trotzdem. Eine Urkunde ist eine Urkunde. Ich bin daran gebunden, ob es mir gefällt oder nicht. Das bin ich meinem Amt schuldig. Wo kämen wir hin, wenn ein Gildemeister einfach die Verfügungen seiner Vorgänger widerrufen könnte? Es gäbe keinerlei rechtliche Sicherheit mehr.«
»Rechtliche Sicherheit für die Mitglieder der Gilde hat euch Ministerialen noch nie geschert. Was Euch treibt, ist die pure Rachsucht, weil mein Bruder Euch einst die Nase gebrochen hat. Ist es nicht so?«
De Brettes Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Euer Bruder war ein Schläger und Unruhestifter, der sich die Mitgliedschaft in der Gilde mit einem schäbigen Trick erschlichen hat. Er war unserer Bruderschaft unwürdig. Wahrscheinlich wurde er deswegen abgestochen – weil er sich mit seinesgleichen eingelassen hat, mit Verbrechern, Lügnern und …«
Michel schnellte nach vorne und schlug beide Hände auf den Tisch. De Brette wich erschrocken zurück. »Noch ein solches Wort über Jean, und ich erwürge Euch mit Eurer eigenen Halskette.«
Der Gildemeister legte
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