Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
Seite und warf sich auf den toten Körper.
»Nein!«, schrie Adèle. »Nein! Jean! O Jean! Das ist nicht wahr. Das ist nicht wahr.«
»Adèle, nicht«, murmelte Michel und umfasste ihre Schultern, versuchte sie wegzuziehen, doch sie schlug und trat nach ihm, presste ihr Gesicht an Jeans Brust und weinte.
»Mein Jean! Mein Jean! Wer hat das getan?«
Michel wandte sich um und sah Gestalten herbeiströmen, Gesichter, die ihn umringten, auf ihn einredeten, obwohl er nicht verstand, was sie sagten. Irgendwann legte ihm jemand den Arm um die Schultern und schirmte ihn mit seinem Körper vor der Menge ab.
»Sollen wir ihn ins Haus bringen?«, fragte Yves.
Michel konnte sich später nicht mehr entsinnen, dem Knecht eine entsprechende Anweisung gegeben zu haben, und doch lag Jean irgendwann aufgebahrt im Eingangsraum, umgeben von brennenden Kerzen. Überhaupt konnte er sich abends an kaum etwas erinnern, was an diesem Tag geschehen war. Alles rauschte nur so an ihm vorbei, unwirklich wie ein Traum, ein einziger wirrer Reigen aus Bildern, Stimmen und geflüsterten Gebeten. Wie damals beim Tod seines Vaters fühlte er nichts. Keine Trauer, kein Entsetzen, keinen Schmerz – nur Leere. Eine allumfassende Müdigkeit, die seine Glieder, seine Bewegungen, seine Gedanken lähmte. Trotzdem hatte er irgendwie die Kraft gefunden, all jene Dinge zu tun, die beim Tod eines Angehörigen getan werden mussten.
Er hatte ein schwarzes Tuch an der Haustür aufgehängt, damit das Viertel über den Todesfall unterrichtet war.
Er hatte Jean gewaschen und ihm mit Yves’ Hilfe ein Leichenhemd angezogen.
Er hatte sich um Adèle und Azalaïs gekümmert und die Tolberts benachrichtigt, die zwei Stunden später kamen.
Er hatte einen berittenen Boten nach Épinal zu Vivienne und Bernier geschickt.
Er hatte mit Pater Jodocus gesprochen, der die Sterbeglocke läutete, Weihrauch verbrannte, Jean die Letzte Ölung spendete und an seinem Leichnam bis zum Einbruch der Dunkelheit Fürbitten und Bußpsalmen sprach.
Es folgte eine der längsten und finstersten Nächte in Michels Leben.
Adèle, die Tolberts, Yves und er wachten an der Totenbahre, beteten, ließen einen Weinschlauch kreisen und sangen Psalmen. Adèle weinte bis zur völligen Erschöpfung, sodass zwei ihrer Brüder sie schließlich hinauftrugen, zu Bett brachten und ihr etwas Mohnblumensaft einflößten, damit sie Ruhe fand. Vor Mitternacht kamen Freunde und Nachbarn, erwiesen Jean die letzte Ehre und sprachen Michel und der Familie ihr Beileid aus. Alle Mitglieder der Gilde, die gerade in der Stadt waren, statteten ihrem verstorbenen Schwurbruder einen Besuch ab, ihre Freunde Charles Duval und Isoré Le Roux, aber auch Fromony Baffour, Guibert de Brette und Jacques und Aimery Nemours.
»Welcher Hund hat das getan?«, fragte Duval, als er mit grauem Gesicht an der Bahre stand.
»Räuber, sagen die Söldner vom Geleitschutz«, antwortete Michel.
Duval starrte ihn an. »Ihr zweifelt daran?«
»Ich weiß nicht, was in Metz geschehen ist. Aber bei Gott, ich werde es herausfinden«, flüsterte Michel, und seine Hand ballte sich unwillkürlich zur Faust.
Als er schon nicht mehr glaubte, dass diese Nacht jemals enden würde, sickerte schließlich das Licht der Morgendämmerung in den Eingangsraum. Yves bereitete ihnen ein einfaches Mahl aus Brot, Käse, gesalzenem Brei und verdünntem Wein, das sie an der Totenbahre verzehrten. Adèle war aufgewacht; bleich saß sie bei ihnen und stillte Azalaïs. Sie hatte aufgehört zu weinen, doch sie rührte das Essen nicht an und sprach den ganzen Morgen über kein Wort.
Als die Klosterglocken zur Terz schlugen, erschien abermals Pater Jodocus mit vier Ministranten, die einen Choral sangen, während der Geistliche den Leichnam mit Weihwasser besprenkelte. Anschließend nähten Michel und Yves Jean in ein Leichentuch ein. Gleichzeitig trafen Isoré Le Roux und Charles Duval ein. Yves hatte gestern in aller Eile weiße Trauergewänder besorgt, die die beiden Kaufleute und sämtliche Mitglieder der Familie und des Haushalts anlegten. Michel, Duval, Le Roux und Jérôme Tolbert trugen die Bahre aus dem Haus und durch die Gassen. Einer der Ministranten ging voraus, in den Händen eine lange Stange mit dem silbernen Tragekreuz. Neben ihm schritt Pater Jodocus und schwenkte das Weihrauchfass; hinter ihnen kamen Adèle mit Azalaïs, Adèles Brüder und Yves.
Unterwegs schlossen sich dem Leichenzug Nachbarn an, Freunde und andere Bewohner des Viertels,
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