Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
Wochen später, bei Michels nächstem Besuch, erfahren hatte, was in ihrer Heimatstadt geschehen war.
Während der Regen auf das Dach prasselte und der Wind um die Gebäude heulte, sah sie ihrem Sohn beim Spielen zu.
Heiliger Jacques, bitte beschütze Michel.
Es war lange her, dass sie sich so einsam gefühlt hatte, so abgeschnitten vom Leben.
V ARENNES -S AINT -J ACQUES
I st mein Bruder zurück?«, fragte Michel, während er sich im Bett aufsetzte.
»Leider nicht, Herr«, antwortete Louis. »Soll ich nach Bézenne reiten und mich erkundigen, ob er bereits dort eingetroffen ist?«
»Ja, tu das. Falls er da nicht ist, reite zur Zollschranke bei Chaligny und frage, ob er dort gesehen wurde.«
Nachdem Louis gegangen war, kniff Michel die Lippen zusammen, griff nach dem Kruzifix auf dem Tischchen und schloss die Finger um das kleine Holzkreuz. Wo blieb Jean nur? Er hätte längst zurück sein müssen. Gewiss, es gab tausend Gründe, warum sich seine Abreise aus Metz verzögert haben könnte, Schwierigkeiten mit der Gilde etwa. Doch das änderte nichts daran, dass Michel und Adèle sich allmählich ernste Sorgen um ihn machten.
Bitte schütze ihn, heiliger Nikolaus. Führe ihn wohlbehalten nach Hause.
Michel stand auf, wusch sich mit dem warmen Wasser, das Louis heraufgebracht hatte, und zog sich an. Er war noch nicht gänzlich genesen – ihn plagten immer noch Kopfschmerzen und ein lästiger Husten –, doch er war längst nicht mehr so schwach wie noch vor drei Tagen. Seit gestern konnte er sich wieder seiner Arbeit widmen, wenngleich es ihm schwerfiel.
Er warf einen Blick in den Bronzespiegel über der Kleidertruhe. Das Fieber war nicht spurlos an ihm vorübergegangen: Er hatte Gewicht verloren, und unter seinen Augen lagen tiefe Schatten. Während seiner Krankheit war ihm schmerzlich bewusst geworden, dass ihn nur noch anderthalb Jahre von seinem dreißigsten Sommer trennten. Obwohl er immer noch kräftig und gesund war, ließ sich nicht leugnen, dass er Erkältungen und dergleichen nicht mehr so leicht verkraftete wie noch vor fünf Jahren.
Er holte sein Schreibzeug und setzte sich in die Stube zu Adèle, die Azalaïs stillte. Er sah ihr auf den ersten Blick an, dass sie eine schlimme Nacht hinter sich hatte.
»Sorge dich nicht um Jean«, versuchte er sie zu beruhigen. »Gewiss kommt er bald zurück.«
»Und wenn er überfallen wurde?«
»Er weiß sich zu verteidigen. Außerdem hat er Geleitschutz mitgenommen.«
Michel rollte einen Bogen Pergament aus und begann endlich mit dem Brief, den er Isabelle bei ihrem letzten Treffen versprochen hatte. Er hoffte, dass er Rémy noch einmal würde besuchen können, bevor der Winter kam.
Er hatte gerade die Feder auf das Pergament gesetzt, als Yves in die Stube stürmte.
»Herr! Es ist Euer Bruder!«
»Was ist mit ihm?«, fuhr Adèle auf. »Was ist mit ihm, nun sag schon!«
»Er ist … er ist …« Yves versagte die Stimme.
Michel sprang auf und eilte die Treppe hinab, gefolgt von Adèle und dem Knecht.
Vor dem Haus stand ihr Ochsenwagen. Die beiden Söldner, die Jean für seine Reise angeheuert hatte, standen neben der Wagenpritsche.
Zwischen den Waren, bedeckt von einem groben Leinentuch, lag ein Körper. Eine Stiefelsohle schaute unter dem Stoff hervor.
Michel ging langsamer und langsamer, und ihm war, als beginne der Boden unter seinem Füßen zu schwanken. »Was ist geschehen?«, hörte er sich fragen.
»Euer Bruder wurde ermordet, Herr«, erklärte einer der Söldner. »In Metz. Wahrscheinlich von Räubern. Niemand weiß etwas Genaues.«
Michel klammerte sich an der Wagenpritsche fest, als ihn jäher Schwindel überkam. Mit der anderen Hand zog er das Tuch zurück.
Ja, es war Jean. Ohne jeden Zweifel. Man hatte seinem Bruder die Augen geschlossen, sein Gesicht war blass, entspannt, friedlich. Sein Wams war rostrot von getrocknetem Blut. In seinem Brustkasten klaffte eine Wunde, in seiner Magengegend eine weitere. Ein süßlicher Gestank, nach Eiter und Fäulnis, entstieg den Verletzungen.
Vornübergebeugt stand Michel da, eine Hand auf der Karrenwand, die andere in das Tuch gekrallt. Er starrte Jeans Antlitz an, bis es immer größer und größer zu werden schien, bis es sein Blickfeld ausfüllte und vor seinen Augen verschwamm.
Er hat es gewusst. Als der Blutschnee kam, hat er geahnt, dass etwas Schreckliches geschehen würde. Warum habe ich nicht auf ihn gehört?
»Jean!«
Wie aus weiter Ferne hörte er Schreie, jemand stieß ihn zur
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