Das Schattenbuch
nicht mehr
hoch und brüchig, sondern dunkel und hohl, als dringe sie
aus ungeahnten Tiefen herauf. Lioba lief ein Schauer über
den Rücken. Sie erinnerte sich an die Worte des Druckers
Josef Blumenberg: Auch wenn ich der vergesslichste Mensch der
Welt wäre, würde ich diese Stimme auf keinen Fall
vergessen können.
»Du weißt, warum du hier bist«, sagte der
andere Mann. Als sie Jonathan zum letzten Mal gesehen hatte, war
er ihr wie ein unangenehmer, aber korrekter junger Mensch
erschienen. Nun war er zum Dämon geworden. »Ich klage
dich an, den Tod meines Herrn verursacht zu haben. Ich klage dich
an, doppeltes Spiel getrieben zu haben – jetzt und
damals.« Die winzigen Falten um seine Augen waren zu tiefen
Furchen geworden, und die Lippen bedeckten kaum mehr das
raubtierhafte Gebiss. Im Schein der vielen Kerzen wirkte seine
Haut gelb.
Pyrmont fuhr mit seiner grässlichen Stimme fort:
»Du weißt, was mit dir geschieht, wenn du uns nicht
davon überzeugen kannst, dass du unschuldig bist.« Er
klopfte auf die Messerwand. »Eine wunderhübsche
Konstruktion. Mehrfach erprobt. Du hast nur eine bestimmte
Zeitspanne. Wie es geschrieben steht.« Er kicherte wie ein
Wahnsinniger. Und nahm die Brille ab.
Dort, wo seine Augen sein sollten, waren zwei schwarze
Höhlen. Keine Pupillen, keine Iris. Doch ganz tief in der
Schwärze glomm etwas. Es war kein Widerschein, es leuchtete
aus sich selbst heraus. Es war ein kaltes Funkeln, als liege
hinter Vampyrs Schädelknochen ein winziges und zugleich
unendliches Universum.
Jonathan bleckte wieder seine Zähne. »Was ist es
für ein Gefühl, für den Tod und das Verderben von
Menschen verantwortlich zu sein?«, fragte er.
Lioba zog an ihren Fesseln. Sie waren wie angeschweißt.
»Ich bin nicht dafür verantwortlich«, sagte
sie.
»Beweise es«, forderte Vampyr.
»Wie soll ich das schaffen?«
»Das ist deine Sache«, sagte Jonathan. Die Stimmen
hallten dumpf in der vom Kerzenschein erhellten Höhle.
»Du bist die Angeklagte und musst deine Unschuld beweisen.
Wir sind die Ankläger.«
»Hast du das Buch geschrieben?«, fragte Lioba und
sah Vampyr an.
Der Künstler lachte. »Ich habe viele Namen, viele
Gestalten und viele Fähigkeiten«, sagte er. Es klang
wie ein Schaben und Kratzen aus den Tiefen der Unendlichkeit.
»Ich habe schon eine Menge Bücher geschrieben. Man
könnte fast sagen, ich bin ein Bestsellerautor.« Er
lachte wieder. Es klang hohl. Er streckte den Kopf vor. Nun
konnte Lioba das Funkeln noch deutlicher erkennen. »Oder
hast du es selbst geschrieben? Zusammen mit Arved Winter und
Manfred Schult? Kannst du das ausschließen? Ist es
vielleicht so etwas wie eine Autobiographie?«
Lioba ballte die Fäuste, das war die einzige Bewegung, zu
der sie noch fähig war. Das Seil war auch um ihren
Körper, um die Beine und die Fußknöchel
geschlungen und presste sie hart und fest gegen den
hölzernen Stuhl. Die Messerklingen, die auf sie gerichtet
waren, funkelten böse.
»Die Zeit läuft«, sagte Jonathan.
»Wer sind Sie?«, zischte Lioba.
»Du verschwendest deine Zeit mit solchen Fragen«,
gab Jonathan zurück. Die Runzeln in seinem Gesicht schienen
ein Eigenleben zu führen. »Außerdem würde
dich die Antwort nicht zufrieden stellen. Du glaubst, ich bin
böse – oder gar der Böse. Aber wer ist dann mein
Freund hier?« Er kicherte. »Nein, so einfach ist es
nicht. Vielleicht bin ich ja der Engel der Geschichte. Vielleicht
obliegt es mir, gerecht zu richten. Die Gerechtigkeit ist weder
gut noch böse, auch wenn sie oft die Gestalt des Bösen
annimmt. Aber ich richte dich nicht, das unternimmst du
selbst.«
Das alles war Wahnsinn. Ich wache gleich aus diesem Albtraum
auf, dachte Lioba. Die beiden sind einfach durchgeknallt, das ist
alles. Es sind Serienmörder, die ein perfides Spiel mit
ihren Opfern spielen. Sie schloss die Augen.
»So ist es gut«, drang die schreckliche Stimme
Vampyrs durch die Finsternis zu ihr. »Besinne dich. Und
überzeuge uns.«
»Ich habe es doch schon bereut!«, rief sie. Sie
war den Tränen nahe. Es waren Sadisten, nichts als
gewöhnliche Sadisten. Und sie würden sie umbringen,
egal was sie sagte, was sie gestand oder leugnete. Was sollte sie
überhaupt gestehen? Sie wusste selbst, dass sie nicht
richtig gehandelt hatte, damals mit Victor und Manfred, doch an
Abraham Sauers Tod traf sie nicht die geringste Schuld. Was
konnte sie dafür, das er sich
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