Das Schattenbuch
und schaute sich wild
um. Es war deutlich, dass er weder Manfred noch Victor erkannte.
»Wer hat all die Kerzen angezündet?«
Es war eine so unwesentliche Frage, dass Lioba laut loslachen
musste. In ihrem Lachen lag all ihre angestaute Angst. Je lauter
und länger sie lachte, desto mehr verblassten die Bilder von
Manfred und Victor. Einen Augenblick hatte es noch den Anschein,
als kämen hinter ihnen wieder Vampyr und Jonathan zum
Vorschein, doch sie gingen mit den Gespenstern der Vergangenheit
fort. Trotzdem hatte Lioba den Eindruck, als seien sie noch da.
Man sah sie nicht mehr, aber man fühlte sie noch. Sie
warteten ab.
Und das Klicken der Zeitschaltung blieb.
»Schnell, Arved. Hinter der Messerwand. Die
Zeituhr.«
Arved verschwand hinter den Brettern mit den bedrohlich
schimmernden Messern. Lioba hörte, wie er ächzte und
keuchte, wie es klapperte und hämmerte, aber das Ticken
blieb – unerbittlich. Jedes Klacken konnte das letzte sein.
Jedes Klacken konnte ihr den Tod bringen – einen Tod
inmitten der vielen Messer, zerschnitten, zerstückelt,
zerfetzt.
Arved kam wieder hinter der Mauer hervor; Verzweiflung lag in
seinem Blick. Dann zerrte er an einem der Messer. Es steckte
fest, als wäre es einbetoniert. Er versuchte es bei einem
anderen. Nichts. Das nächste. Nichts. Lioba sah im
Kerzenschein, wie seine Bewegungen immer verzweifelter, immer
fahriger wurden. Das Klacken gab den Takt vor.
Dann endlich hatte er ein Messer gefunden, dessen Griff nicht
so fest in das Holz gerammt war. Er zog es heraus, flog auf Lioba
zu und versuchte die Fesseln durchzuschneiden. Das Seil war zu
hart. Arved konnte es kaum ritzen. Der Mechanismus klackte
weiter. Lioba schloss die Augen. Gleich würde es vorbei
sein. Noch ein Klacken. Noch eines. Würden sie beide hier
unten sterben? War alles umsonst gewesen?
Arved stöhnte vor Verzweiflung auf. Wie ein Wilder
säbelte er an dem Seil in der Nähe ihrer Arme herum.
Dann versuchte er es an einer anderen Stelle. Klack, klack,
klack. Jetzt war er hinter dem Stuhlrücken. Plötzlich
spürte Lioba, wie die Spannung, in der das Seil sie hielt,
etwas nachließ. Sie drückte sich nach vorn, hinter ihr
arbeitete Arved keuchend und fluchend, dann ein Knall. Lioba
versteifte sich. Die Messerwand. Sie hielt die Luft an. Jetzt
schoss sie heran. Klack, klack, klack. Nein, es war das Seil
gewesen. Lioba öffnete die Augen wieder. Arved wickelte das
Seil von ihr, jetzt kamen auch die Arme frei, sie half mit, und
dann konnte sie aufstehen.
Klack, klack… ein Aussetzer, ein schabendes
Geräusch. Arved drückte Lioba unsanft von sich weg, er
selbst sprang zur anderen Seite. Die Wand schnellte mit
ungeheurer Wucht vor, zerschmetterte den Stuhl, spießte ihn
auf, es war ein ohrenbetäubender Knall. Arved und Lioba
standen einander gegenüber, zwischen ihnen die von den
Messern durchbohrte Stuhllehne; Beine und Sitzfläche waren
zerschmettert. Erst allmählich wagte Lioba wieder zu atmen.
Sie ging langsam und vorsichtig um die Zerstörung herum.
Dabei erlosch eine Kerze nach der anderen, als würde jemand
sie nacheinander ausblasen. Die Schatten wuchsen. Arved streckte
wortlos die Hand nach Lioba aus. Sie hatte ihn endlich erreicht.
Nun brannten nur noch wenige Kerzen; das Licht kämpfte gegen
die Finsternis. Arved ergriff ihre Hand und zerrte sie auf den
Tunnel zu, durch den ihre Entführer sie hergebracht
hatten.
Aber sie kamen nicht weit.
»Ihr glaubt doch wohl nicht im Ernst, dass wir euch so
leicht entkommen lassen?« Es war Jonathans Stimme, aber er
blieb unsichtbar. »Es ist schön zu sehen, dass es
jemanden gibt, der dich liebt, Lioba Heiligmann.«
»Aber noch schöner ist es, zu sehen, wie eine
große Liebe untergeht«, sagte Vampyrs grauenvolle
Stimme.
Arved zog sie einen Schritt weiter, dann gefroren ihre
Bewegungen. Vor ihnen bildeten sich Wirbel, unkörperlich,
aber undurchdringlich. Es waren Wirbel, die Lioba an Bilder von
Galaxien erinnerten, die sie einmal in einem Wissenschaftsmagazin
gesehen hatte. Sternenhaufen in irrem Taumel, schwarze
Löcher im Kampf mit ihnen, und das alles in dem knapp
mannshohen Durchgang, der nach draußen, in die Freiheit, in
die Welt führte. Stimmen drangen aus den Wirbeln. Es waren
nicht mehr die Stimmen von Vampyr und Jonathan; es war, als
hätten sie ihre halbmenschliche Maske endlich abgelegt. Es
war ein gewaltiger Stimmenchor, wie das Brausen des Windes in
einem
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