Das Schattenbuch
links, dann nach rechts, wieder nach links, wahllos. Nur
weg! Einmal wagte er, etwas langsamer zu laufen und über die
Schulter zu blicken. Er wurde verfolgt. Es schien Lilith zu sein,
eine seiner Katzen. Aber es war nicht Lilith, das wusste er jetzt
genau. Bloß nicht stehen bleiben!, rief er sich zu. Die
Gräber verschwanden, übrig blieben nur die mehr als
mannshohen Hecken. Ein reines Labyrinth. Und der nächste
Weg, in den Arved keuchend und prustend einbog, war eine
Sackgasse.
Arved erkannte es zu spät. Er blieb stehen, warf einen
gehetzten Blick hinter sich. Er war allein. Keine Katze, kein
Menschenphantom, nichts. Arved holte tief Luft. In seiner Lunge
stach es. Langsam, mit unsicheren Schritten, ging er zurück
zur Mündung des Weges. Erst allmählich kam er zu der
Erkenntnis, dass er nicht mehr auf dem Friedhof war. Dieser Ort
befand sich nicht in Trier, nicht in Deutschland, nicht auf der
Welt. Er war irgendwo anders. Befand er sich etwa noch
jenseits des Spiegels? Wie war dann Lioba hineingekommen? Auf
demselben Weg wie er? Er kniff die Augen zusammen. Das alles war
Wahnsinn. Er steckte nicht in einer Anderswelt, sondern in sich
selbst. Er lief voran, in der Hoffnung, aus sich heraustreten zu
können. Aber der Weg endete vor einer weiteren Mauer aus
undurchdringlichem Eibengebüsch, im rechten Winkeln
geschnitten, ohne die geringste Unebenheit.
Hinter der Mauer klang eine sanfte Stimme: »Hier bin
ich.« Es war Liobas Stimme.
Arved drückt sich gegen die Eibenmauer. Nirgendwo gab es
einen Durchlass; nirgendwo konnte er sich an den dicken, von den
zarten Nadeln verborgenen Stämmen vorbeistehlen.
»Lioba!«, rief er.
»Hallo! Hier!«, drang es hinter der grünen
Mauer hervor. Sie war zu hoch, als dass Arved sie hätte
überklettern können. Außerdem konnte er sich
nirgendwo festhalten.
»Erinnerst du dich?« Es waren zwei Stimmen. Hinter
ihm.
Er wirbelte herum.
Lilith und Salomé. Sie konnten nicht hier sein, konnten
nicht den Weg von Manderscheid bis zum Trierer Hauptfriedhof
gefunden haben. Entweder träumte er, oder…
Sie hatten ihm schon einmal den Weg gewiesen, hatten ihn schon
einmal gerettet. Sie liefen los, er folgte ihnen. Immer wieder
blieben sie, die viel schneller waren als er, stehen und drehten
sich nach ihm um. Wenn sie sahen, dass er kam, rannten sie
weiter. Sie führten ihn durch das Labyrinth. Bis in die
Mitte.
Es war ein kreisrunder Platz, wiederum in dessen Mitte lag ein
einzelnes Grab. Lilith und Salomé huschten auf die Person
zu, die mit verweinten Augen vor dem Grab stand. Es war Lioba
Heiligmann. Als sie Arved kommen sah, wich sie vor ihm
zurück, trat auf das mit Efeu und Buchsbaum bepflanzte Grab,
dessen Laterne schon lange erloschen war.
»Verflucht seiest du, Arved Winter«, rief sie mit
schriller Stimme.
17. Kapitel
»Warum endet meine Liebe immer im Tod?« Lioba
ließ die Arme sinken und sah Arved mit einer Mischung aus
Angst und Verachtung an.
Das Labyrinth war verschwunden, die Katzen ebenso. Arved stand
auf dem kreisrunden Platz inmitten des Friedhofes; es war, als
hielten die anderen Gräber absichtlich Abstand zu dem, auf
dem Lioba stand. Eine große Buche neben dem Grab spendete
ihm Schatten. Arved kniff die Augen zu, öffnete sie und
erwartete, abermals das Labyrinth oder die Finsternis oder etwas
anderes Unerklärliches zu sehen, doch nichts hatte sich
verändert.
»Warum hast du ihn ungebracht? Was hat er dir
getan?«, fragte Lioba mit tonloser Stimme.
»Ich habe ihn nicht umgebracht«, wehrte sich
Arved.
»Wieso bist du dann voller Blut?«
Arved machte einen Schritt auf Lioba zu, sie wich über
das Efeu und den Buchsbaum bis zu dem glatten, schwarzen Stein
zurück. »Komm mir nicht zu nahe!«, kreischte
sie.
Arved blieb stehen und sah sie bettelnd an. »Unser
Wiedersehen hatte ich mir anders vorgestellt«, sagte er
traurig. Etwas raschelte in der Krone der Buche, die neben dem
Grab auf dem kreisrunden Platz wuchs. Arved sah rasch auf. Es war
nur ein Eichhörnchen, dessen buschiger Schwanz wie ein
Baumgespenst durch das Geäst huschte. Lioba floh in dieser
Sekunde der Unaufmerksamkeit hinter den Stein, und Arved konnte
zum ersten Mal die Inschrift lesen:
Victor Stein
* 14.11.1959
+ 1.8.1998
Liobas Liebhaber. Der Mann, den Manfred Schult in den Tod
getrieben hatte. Victor Stein… Arved schüttelte den
Kopf. Hatte er diesen Namen nicht schon einmal gehört
– in einem
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