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Das Schattenbuch

Das Schattenbuch

Titel: Das Schattenbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Siefener
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okkulte Drohungen bekam«,
sagte sie schließlich, nachdem sie einen Zigarillo aus
ihrer Handtasche gefischt und mit zitternden Fingern angesteckt
hatte. Sie beobachtete nachdenklich den Rauch, der in den Himmel
aufstieg, wie ein vorzeitliches Brandopfer. »Er war
außer sich vor Angst. Ich habe versucht, ihm klarzumachen,
dass von solch läppischen Spielchen keine Gefahr ausgeht,
aber als er das Voodoo-Püppchen mit den Nadeln im Bauch per
Post zugeschickt bekam, stellten sich ziemlich bald
Magenkrämpfe ein. Und so ging es weiter. Ein paar Wochen
später ist er von der Römerbrücke in die Mosel
gesprungen.«
    Arved legte die Hände in den Schoß und schaute zu
Boden. »Es tut mir Leid«, sagte er leise.
    »Ich hätte nie für möglich gehalten, dass
Manfred dahinter steckt«, meinte Lioba und nahm einen
tiefen Zug. Langsam stieß sie den Rauch aus. »Aber es
sieht ihm ähnlich. Jetzt passt alles zusammen.«
    Ein alter Mann ging an ihrer Bank vorbei und sah die beiden
mit ungläubigen Augen an. Sie mussten schon ein seltsames
Bild ergeben: So weit wie möglich voneinander entfernt, der
eine mit blutverschmierten Kleidern, die andere verloren vor sich
hinstierend. Der Mann ging schneller, drehte sich noch einmal um
und war endlich hinter den Büschen und Bäumen
verschwunden.
    Manfred Schult war der Mörder von Victor Stein! Lioba
glaubte es, aber fassen konnte sie es nicht. Wie scheinheilig
hatte Manfred um Victor getrauert, um Liobas Vertrauen und ihre
Liebe zurückzuerobern. Umsonst! Sie verzog die Lippen zu
einem grimmigen Lächeln. Nicht auszudenken, wenn er sie doch
herumgekriegt hätte. In ihrer Trauer und Verzweiflung war
sie damals fast geneigt gewesen, seinem Werben Gehör zu
schenken. Nun war er für sie endgültig tot. Nicht nur
im Fleisch, auch im Gefühl.
    »Er hatte das Schattenbuch gelesen«, sagte Arved
unvermittelt.
    Lioba zuckte zusammen. »Ich auch«, flüsterte
sie.
    »Die dritte Geschichte«, begann Arved, beugte sich
vor und stützte den Kopf in die Hände, »handelt
von einem Menschen, der seine Schuld nicht eingestehen will und
am Ende erfahren muss, dass er selbst der Mörder ist, den er
sucht. Er stirbt, weil er nicht in der Lage ist, seine Tat
zuzugeben.«
    »Wie Manfred Schult.«
    Lioba nickte und warf den Stumpen auf den Kiesboden. Dann
schüttelte sie unwillig den Kopf. Es war Wahnsinn. Bereits
dieser Gedanke führte in die Kavernen des Irreseins. Aber
sie musste an Abraham Sauers Worte denken. An die Worte über
das Buch, das einem den Spiegel vorhält. All diese
Bücher seien Spiegel, hatte er gesagt. War die Geschichte
von dem Kommissar, der sich selbst sucht, ein Spiegel für
Manfred gewesen? Und dann dieser reale, seltsame Spiegel in
seiner Abstellkammer. Hatte er wirklich Carnacki gehört? Es
war verrückt, vollkommen verrückt. Sie fühlte
sich, als schwanke die Welt um sie herum, als weite sie sich,
sodass Lioba nirgendwo mehr Halt fand.
    Arved sah sie nicht an, als er weiterredete. »Wenn diese
Geschichte für Schult war, dann könnten die beiden
anderen Geschichten für uns sein.«
    »Wohl kaum«, wehrte sich Lioba und holte tief
Luft. »Die Parallelen sind doch an den Haaren
herbeigezogen.« Sie weigerte sich, ihren Gefühlen zu
folgen. »Die Geschichte Täter und Opfer bezieht
sich auf einen Kommissar, und Manfred war kein Polizist. Es ging
um eine Maske, die das Opfer erstickt hat, Manfred aber ist
zerstückelt worden. Und nirgendwo ist in der Geschichte von
einem Spiegel die Rede.«
    »Manfred hatte eine Maske vor dem Gesicht, auch wenn
Ersticken wohl nicht die Todesursache war. Außerdem glaube
ich, es geht nicht um die Einzelheiten, sondern ums
Prinzip«, wandte Arved ein und rieb sich die Hände,
als wolle er imaginäres Blut abwischen. »Schult musste
sterben, weil er seinen Spiegel gesehen und keine Konsequenzen
daraus gezogen hat. Weißt du, in der Theologie gibt es das
Fegefeuer, das die modernen Theologen ebenfalls als Blick in den
Spiegel beschreiben. Der Tote sieht sich so, wie er war, ohne
Beschönigungen oder Verzerrungen. Und das, was er sieht,
schreckt ihn mehr oder minder, je nachdem, was er im Leben
für ein Mensch war. Er hat in diesem Augenblick die
Gelegenheit, sich selbst, seine Fratze ohne die gewohnte Maske
anzuerkennen – oder eben nicht. Tut er es nicht oder kann
er es nicht, bleibt ihm nur die Hölle.«
    »Nichts als verworrene Theorie«, wandte Lioba ein.
Bilder vergangener

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