Das Schattenbuch
Anblick
wie ein dem Grab Entstiegener.
An einer Wasserstelle rieb er sich das Blut von Gesicht und
Händen und versuchte auch, die roten Flecken auf Hemd und
Hose zu entfernen, natürlich ohne Erfolg. Er verschmierte
dabei das Blut so lange, bis es eine einheitliche Tönung auf
seiner Kleidung bildete und der wahre Ursprung der Farbe nicht
mehr zu erkennen war.
Einmal hörte er neben sich im Friedhofsgebüsch etwas
rascheln. Er zuckte zusammen, schaute in die Richtung, aus
welcher das Geräusch kam, erkannte aber nichts. Vielleicht
war es nur eine Amsel. Hatte da aber nicht etwas Graues
aufgeschienen? Das Bild des bestialisch zugerichteten Leichnams
kam ihm wieder in den Sinn. Lioba glaubte wohl, das sei sein
Werk. Wie konnte sie nur! Arved hatte noch nie einer Fliege etwas
zuleide getan. Wo war sie nur? Er musste den Irrtum beseitigen.
Er konnte nicht mit dem Gedanken leben, dass sie ihn für
einen Mörder hielt.
Wieder raschelte es, diesmal hinter ihm. Er drehte sich rasch
um. Es waren weder die drei grauen Männer noch jenes
grässliche Phantom, das ihn schon mehrfach heimgesucht hatte
(heimgesucht aus den Tiefen deines Hirns, murmelte es in ihm), es
war kaum mehr als ein Schatten, der eine Handbreit über dem
Boden schwebte. Graue Fäden waren in das Schwarz gewebt,
Fäden, die hin und her zuckten. Arved blieb wie versteinert
stehen. Das Ding glitt noch einen Augenblick weiter an ihn heran,
dann löste es sich vor seinen Augen in eine Horde Raben auf,
die krächzend und kreischend in den Himmel flogen, sich dort
oben erneut zu einer schwarzen Wolke zusammensetzten und langsam
forttrieben, bis sie hinter den Wipfeln der höchsten
Platanen verschwunden waren. Arved atmete auf.
Du hast sie mitgebracht – sie und noch vieles mehr,
flüsterte eine Stimme in ihm. Aus der Welt hinter dem
Spiegel. Die Welt hinter dem Spiegel war Schults Welt, doch sie
ist auch deine Welt.
Arved schüttelte unwillig den Kopf. Er strich sich mit
der Hand über die Augen und versuchte die seltsamen Bilder
und Gedanken zu vertreiben. Als er die Augen wieder öffnete,
stand er in völliger Dunkelheit. Er hörte
Vogelgezwitscher um sich herum, ganz fern auch den
Straßenverkehr, doch er sah nichts, sodass er schon
befürchtete, von einer Sekunde auf die andere erblindet zu
sein. Er streckte die Hände aus, stieß auf nichts. Er
stampfte mit dem rechten Fuß auf; es fühlte sich an
wie der Friedhofsboden. Arved blinzelte, rieb sich die Augen,
aber es half nichts; die Schwärze blieb. Panik stieg in ihm
auf. War er tatsächlich blind geworden?
»Warst du nicht schon immer blind?«, fragte eine
seltsame Stimme, die weder männlich noch weiblich war. Sie
schien von überall her zu kommen. Bei ihren Worten schien
sich das Dunkel ein wenig zu lichten und gab Schemen frei, doch
als sie verstummte, war alles wieder stockfinster. Die Schemen
indes hatten nichts mit den Umrissen gemein, wie er sie zuvor auf
diesem Friedhof gesehen hatte. Es waren wirbelnde,
auseinanderstiebende und sich wieder zusammensetzende Fetzen
gewesen, das Chaos, das auf dem Boden der Welt herrschen mochte.
Erneut sprach die Stimme; erneut lichtete sich der Schleier
leicht.
»Vertraue dir nicht«, sagte sie.
Nun blieb es ein wenig heller, und Arved erkannte etwas
Schwarzes vor seinen Füßen. Es war eine Katze.
Verblüfft kniff er die Augen zusammen. Es war nicht
irgendeine Katze. Es war Lilith. Er bückte sich, froh, ein
vertrautes Lebewesen zu sehen. Er streckte die Hand nach Lilith
aus und kraulte sie.
»Vertraue auch mir nicht«, sagte die Katze. Sie
war es, die vorhin in die Finsternis hineingesprochen hatte. Dann
verwandelte sie sich in Lioba Heiligmann. Sie strich kokett eine
silberne Haarsträhne zurück und lächelte Arved
verführerisch an. Und weiter ging die Verwandlung. Es waren
Menschen, denen Arved in seinem Leben begegnet war, unter denen
er zu leiden gehabt hatte und die ihm Freude bereitet hatten. Der
Letzte war ein Mann mit langen, verfilzten Haaren, die er wie
einen Vorhang vor dem Gesicht trug. Er roch nach Wasser, nach
Verwesung. Arved schrie auf. Das Wesen griff nach ihm. Es
berührte ihn.
Bilder zuckten durch seinen Kopf. Bilder der Vergangenheit.
Bilder der Hölle. Er rannte los, ohne zu sehen, wohin er
lief. Das Licht floss zurück. Die Wege bildeten ein
Labyrinth; die Hecken hinter den Gräbern waren hoch und
undurchdringlich. Arved lief bei der nächsten Abzweigung
nach
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