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Das Schattenbuch

Das Schattenbuch

Titel: Das Schattenbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Siefener
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mit einer unerträglichen Intensität an. Seine
Augen waren tot und höllisch lebendig zur gleichen Zeit.
»Bin ich etwa ein Mörder?«
    Arved wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Ja, das
bist du, wollte er ihm sagen, doch er traute sich nicht.
    Schult redete weiter: »Ich wollte nur Lioba
zurückhaben, auch wenn wir schon geschieden waren. Als
Victor endlich aus dem Weg war, habe ich ihr wieder einen Antrag
gemacht, aber sie wollte nicht mehr. Es war alles umsonst.«
Das Höllenfeuer in Schults Augen erlosch, nun war es nur
noch sein Mund, der lebte und sich bewegte. »Sie werden
wiederkommen, ein letztes Mal. Retten Sie mich! Ich bin doch
nicht schuld!«
    Und sie kamen wieder. Es waren drei. Arved hatte nicht
bemerkt, wie sie eingetreten waren. Als er ein leises
Geräusch hörte und sich umdrehte, standen sie hinter
ihm.
    Sie trugen graue Anzüge, weiße Hemden und graue
Krawatten, ihre Haare waren weiß. Und ihre Haut so
weiß wie die eines Albinos. Und die Augen waren rot. Sie
hatten die Hände vor den Knöpfen ihrer geschlossenen
Sakkos gefaltet, es sah beinahe so aus, als beteten sie. Der
mittlere sagte mit leiser, beinahe flüsternder, heiserer
Stimme zu Arved: »Geh. Deine Zeit ist noch nicht
gekommen.«
    Arved drehte sich kurz um und sah Schult an. Dieser zeigte
keine Regung. Arved fühlte sich, als sei er mit den
Gliedmaßen zwischen vier Pferde gespannt und drohe
zerrissen zu werden. Er wollte Schult helfen, gleichzeitig
stieß ihn diese menschliche Larve ab. Er wandte sich wieder
an die drei und versuchte etwas zu sagen, doch der Rechte hob die
behandschuhte Hand. Das genügte. Arved gab auf. Er wich zur
Seite aus und verließ den Raum. Er verließ die
Wohnung, verließ die Etage. Diesmal hörte er keine
Schreie. Diesmal gab es nichts mehr in Schult, was noch schreien
konnte.
    Arved war nur noch von dem Gedanken erfüllt,
herauszukommen. Wieder in sein Leben hineinzukommen. Zurück
zu Lioba zu kommen. Der Gedanke an sie verlieh ihm neue Kraft. Er
lief durch das ganze Haus, durch die weißen Korridore,
über weiße Treppen hinauf und hinunter, hastete durch
weiße Türen in weiße Wohnungen, rannte über
grauen Teppich, über graue Betonböden, über graue
Pegulanböden. Er war allein in dem gewaltigen Haus. Auch den
drei Männern begegnete er nicht mehr.
    Ein Zimmer aber war anders. Auch dieses, in das er auf seiner
sinnlosen Flucht gelangte, war weiß gestrichen, auch dieses
besaß einen grauen Teppichboden, doch eine andere Farbe
beherrschte den Raum.
    Rot.
    Überall war Blut. Es klebte in Schlieren an den
Wänden, stand in kleinen, trocknenden Pfützen auf dem
Boden, war sogar bis an die Decke und die Glühbirne
gespritzt. Hier war nur das Blut, nicht der Körper, aus dem
es gedrungen war.
    Diesen fand Arved in der Abstellkammer derselben Wohnung. Er
lag vor dem Spiegel. Vor dem Spiegel mit den kleinen
Dämonenfratzen im Rahmen. Es war noch Leben in Schult,
obwohl es nicht sein konnte. Sein Körper, befreit von aller
Kleidung, war ein unerklärliches Muster von Spalten, Rissen,
Löchern. Fleischrosa, blutrot, darmgrau. Doch er atmete
noch. Die Augen waren nichts als blutige Höhlen hinter einer
ledernen Maske. Darunter röchelte es: »Hier…
raus…«
    Bevor Arved begriff, was er da tat, schleppte er Schults
Körper zum Spiegel, drückte ihn dagegen. In der
Oberfläche bildete sich ein glitzernder Spalt. Und Schults
Körper verschwand in ihm, wurde aufgesogen. Arved sprang
hinter ihm her.
    Und befand sich wieder inmitten des Chaos von Schults Wohnung.
Manfred Schult lag auf dem Boden der Abstellkammer – dort,
wo vorhin nur die Kleidungsstücke gewesen waren, die
seltsamerweise den Umriss eines Körpers geformt hatten. Nun
war der Körper da. Arved kniete neben ihm. Seine Hände
waren blutverschmiert. Er betrachtete Schult. Er atmete nicht
mehr. Alles Leben war aus ihm gewichen. Die leeren Höhlen
starrten zur Decke mit der nackten Glühbirne. Die Maske
hatte sich um den Kopf geschmiegt, war beinahe eins mit ihm
geworden. Dann erst bemerkte Arved, dass der Spiegel an der
Rückwand der Kammer in tausend Scherben zersplittert war.
Dahinter war nichts als eine rohe, raue Betonwand, unverputzt,
untapeziert. Arved kniete neben dem Leichnam nieder und tat
etwas, das er lange nicht mehr getan hatte. Er betete um die
Seele von Manfred Schult.
    Da wurde die Tür zur Abstellkammer mit einem Ruck
aufgezogen. Grelles Licht drang

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