Das Schattenbuch
herein. Lioba stand im Rahmen
– eine fremde Lioba in Rock, Bluse und Halbschuhen. Eine
geschminkte, unechte Lioba. Sie hielt die Hände vor den Mund
und schrie. Als Arved aufsprang und auf sie zulief, wich sie mit
grässlicher Angst im Blick vor ihm zurück.
Sie floh aus der Wohnung.
16. Kapitel
Arved sprang auf, lief hinter Lioba her. Sie war bereits im
Treppenhaus, er hörte die Absätze ihrer Schuhe
über den rissigen, schmutzigen Stein klappern. War sie es
überhaupt? Sie hatte so seltsam gewirkt – verkleidet.
Nicht wie sie selbst.
»Lioba!«, rief Arved durch das Treppenhaus. Die
Schritte hielten nicht inne. Dann schlug und klirrte die
Haustür. Arved übersprang einige Stufen, taumelte,
musste sich am Geländer festhalten, rutschte mit einem
Fuß von der Treppe und schlug mit dem Rücken gegen das
Geländer. Dabei fiel sein Blick auf den oberen Teil der
Treppe.
Auf dem Absatz des ersten Stocks standen drei Männer.
Drei Männer mit grauen Anzügen, weißen Hemden
und grauen Krawatten. Sie hatten die Arme über der Brust
verschränkt und starrten Arved mit ihren roten Augen an. Er
wirbelte herum, hastete die wenigen Stufen hinunter ins
Erdgeschoss und rannte nach draußen. Er hörte das
Quietschen von Reifen und sah ihren Twingo in Richtung Stadt
rasen. Arved lief zu seinem Wagen, startete ihn und trat das
Gaspedal voll durch. An der nächsten Ampel hatte er Lioba
erreicht. Er sprang aus dem Wagen, klopfte gegen ihre Scheibe, es
wurde Grün, sie machte einen Kavaliersstart, und hinter
Arveds Bentley hupte es aufgeregt. Er nahm die Verfolgung wieder
auf.
Avelsbacher Straße, unter der Bahnlinie hindurch,
Wasserweg, Herzogenbuscher Straße stadtauswärts, weil
nach links in die Stadt ein Rückstau war, dann bremste sie
ihren Twingo scharf ab, lenkte ihn vor der Citroen-Werkstatt an
den Straßenrand, drückte die Tür auf, sprang
heraus, rannte zwischen den Autos über die Straße und
durch das Torgebäude auf den Friedhof. Es dauerte ein wenig,
bis Arved seinen schweren Wagen ebenfalls abgestellt hatte. Er
folgte ihr durch das Tor des Hauptfriedhofes und fragte sich,
warum Lioba hier Zuflucht nahm. Sie konnte sich doch denken, dass
er sie einholen würde.
Arved krümmte sich, holte Luft, musste stehen bleiben.
Über ihm sang eine Amsel, als würde sie ihn
verhöhnen. Ein Eichhörnchen kam auf den Weg und starrte
ihn fragend an. Lioba war nicht mehr zu sehen.
Er stützte sich mit den Händen auf den Knien ab und
rang nach Luft. Als die Schmerzen nachließen, richtete er
sich wieder auf und sah sich um. Von Lioba war nichts mehr zu
sehen. Kurz überlegte er, ob er zu ihrem Auto
zurückgehen sollte. Er schaute auf die Uhr. Es war Mittag;
es dauerte noch lange, bis der Friedhof schloss. Sollte er
wirklich stundenlang auf sie warten? Und was war, wenn es einen
zweiten Ausgang gab und sie bereits durch ihn verschwunden war?
Vielleicht hatte sie vor, ihr Auto ein paar Tage hier stehen zu
lassen. Nein, er wollte nach ihr suchen. Aber es war nicht nur
das, was ihn weiter in den Friedhof hineintrieb.
Er wollte bei den Toten sein.
Arved wäre am liebsten einer von ihnen gewesen. Er
verstand das Leben nicht mehr. Langsam ging er los. Die
Grabsteine grüßten ihn; im hellen Licht der
Mittagssonne spiegelten sich die Inschriften, der Marmor, und
Birken und Platanen malten hier und da Schatten über den
Weg. Ein eiserner, rostender Engel deutete mit einem angenagten
Finger in die Tiefen des Gräberfeldes. Das Rauschen des
Verkehrs drang nur gedämpft hierher. Die Blätter der
Bäume und Büsche filterten jedes Geräusch, sodass
Arved sich in einer weltenfernen Kathedrale wähnte. Er ging
in die Richtung, die ihm der Engel wies.
Eine Frau kam ihm entgegen. Zuerst glaubte er, es sei Lioba,
denn sie trug eine Bluse und einen Rock, und ihr braunes Haar
wurde von weißen Strähnen wie von Sternschnuppen
durchzogen. Sie blieb stehen, als sie ihn bemerkte. Dann warf sie
die Hände in die Luft, wobei ihre braune Handtasche einen
Sprung nach oben machte, als ob die Frau sie in den Himmel
schleudern wollte. Und sie schrie. Und lief fort.
Arved erstarrte. Es war nicht Lioba gewesen. Warum hatte die
Frau so entsetzt auf seinen Anblick reagiert? Dann sah er an sich
hinunter.
Blut, überall Blut. Auf dem weißen Hemd, an den
Händen, an der schwarzen Hose, wo es nicht so sehr auffiel,
sogar auf den Schuhen waren rostige Flecken. Er bot einen
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