Das Schattenbuch
ganz anderen Zusammenhang? Er dachte angestrengt
nach, vergaß sogar Lioba darüber, die ihn
ängstlich anstarrte, aber er kam zu keinem Ergebnis.
»Er hat ihn umgebracht«, murmelte er
schließlich. »Dafür wurde er
bestraft.«
»Wovon redest du?«, keuchte Lioba.
»Manfred Schult. Er hat Victor getötet.«
Lioba machte große Augen. Für einen Augenblick fiel
alle Fluchtbereitschaft von ihr ab. »Wer sagt
das?«
»Er selbst. Er hat es zugegeben, aber er hat
gleichzeitig alle Schuld von sich gewiesen.« Arved machte
einen Schritt zurück. »Ich habe ihn nicht
getötet. Ich muss dir eine Geschichte erzählen, die zu
unglaublich ist, als dass ich sie hätte erfinden
können. Komm.« Er streckte die Hand aus. »Wir
suchen uns eine Bank.«
* * *
Lioba folgte ihm widerstrebend, aber er tat ihr nichts, fiel
sie nicht an, hielt sogar Abstand zu ihr. Sie roch das
verschmierte Blut auf seiner Kleidung. Warum vertraute sie ihm?
Sie kannte ihn; er war schon immer ein sehr labiler Mensch
gewesen, doch nun schien er vollends den Verstand verloren zu
haben. Sie ging neben einem Irren über einen Friedhof, und
niemand konnte ihr helfen. Doch sie wollte hören, was er zu
sagen hatte. Was hatte Manfred mit Victor zu tun gehabt?
Arved huschte dahin wie ein Gehetzter. Immer wieder schaute er
hinter sich, als erwarte er, verfolgt zu werden.
Schließlich fanden sie eine verschwiegene Bank hinter der
Kapelle, nicht weit vom Kriegerdenkmal, und setzten sich. Lioba
rückte so weit wie möglich von Arved ab. Sie ertrug den
Gestank des Blutes nicht. Und sie ertrug den Gestank seiner
Verrücktheit nicht.
Er schaute sie an. Etwas von dem alten Arved, den sie so lieb
gewonnen hatte, blitzte hindurch. Leider verschwand es rasch
wieder. »Eins verstehe ich nicht«, sagte er
versonnen, wandte den Blick von ihr ab und sah nach vorn auf die
gegenüberliegenden Gräber. »Wieso warst du bei
Schult? Was hattest du bei ihm zu suchen?«
»Dasselbe kann ich wohl auch dich fragen«, brauste
Lioba auf und biss sich sofort auf die Lippe. Vorsicht, sagte sie
sich. Verrückte darf man nicht reizen. Es tat ihr weh, so
von Arved denken zu müssen, doch seine Handlungsweise und
sein Aussehen ließen keinen anderen Schluss mehr zu.
Hätte sie ihm bloß dieses verhängnisvolle Buch
nie geschenkt!
Arved sah sie immer noch nicht an. »Was wolltest du von
ihm?«
Lioba seufzte. »Ich hatte dich gesucht. Du warst nicht
in Manderscheid. Natürlich hättest du überall sein
können, aber da ich deine Besessenheit kenne, was das
Schattenbuch angeht, habe ich angenommen, dass du wieder auf der
Suche bist. Ein Treffen mit Manfred war eine der
Möglichkeiten, die ich überprüfen wollte, und als
ich am Grüneberg deinen Bentley gesehen habe, wusste ich, wo
du steckst. Was ist vorgefallen?«
»Ich habe ihn nicht getötet. Ich hatte ja nicht
einmal eine Waffe. Hast du die Verletzungen gesehen? Glaubst du
etwa, ich hätte sie ihm mit bloßen Händen
zugefügt?«
»In dem ganzen Durcheinander kann durchaus eine Waffe
gelegen haben.« Lioba schaute in die Schatten, die von der
Tanne neben ihnen geworfen wurden. »Verdammt, was hat dich
dazu getrieben!?« Sie faltete die Hände und
drückte zu, bis die Knöchel weiß
hervorstachen.
»Der Spiegel«, antwortete Arved nur.
»Der Spiegel?« Sie sah ihn fragend an. Er zuckte
die Achseln. Sie erinnerte sich an Abraham Sauers Schattenbuch
und die Erwähnung von Spiegeln darin. Und sie erinnerte sich
an die Illustration in Arveds Exemplar.
Arved berichtete ihr, wie er durch Thomas Carnackis Spiegel
gezogen worden und was dahinter geschehen war. Es fiel ihr
schwer, seinen Worten zu glauben, doch sie wusste aus Erfahrung,
dass es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gab, als sowohl die
Schulweisheit als auch die Dichter sich erträumen konnten.
Doch Arveds Geschichte ergab einen Sinn. In ihr wich die Angst,
dass er verrückt geworden sein könnte. Je
verrückter seine Geschichte war, desto mehr bestand die
Hoffnung, dass er nicht übergeschnappt war. War er wirklich
hinter dem Spiegel gewesen? Lioba konnte sich daran erinnern,
dass nur noch Bruchstücke von Spiegelglas in dem seltsamen
Rahmen in der Abstellkammer gesteckt hatten. Der Spiegel war real
gewesen. Hatte sie wirklich kleine Dämonenköpfe im Holz
gesehen? Es war alles so schnell gegangen, es war alles so
erschreckend, entsetzlich, abscheulich gewesen. Sie seufzte
auf.
»Es stimmt, dass Victor
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