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Das Schicksal der Zwerge

Das Schicksal der Zwerge

Titel: Das Schicksal der Zwerge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Heitz
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verschnürte Päckchen. Es hatte im Morgengrauen vor dem Westtor gelegen und war von einer Wache hereingeholt worden. Es war der Umlauf, an dem die Bedenkzeit geendet hatte. Auch wenn ihr angekündigt worden war, was der Anführer derScheusale ihr zustellen würde, sie wollte die abgetrennten Finger ihrer Tochter nicht sehen.
Ihre Hände bewegten sich von selbst, öffneten die Schnüre, falteten das Papier auseinander und hoben den Deckel von der schmucklosen Schachtel.
Goda sah nicht hinein, der Geruch von Blut stieg hervor.
Langsam neigte sie sich nach vorne, die Augen selbst schienen sich vor dem Anblick zu fürchten, der in dem Gefäß auf sie wartete.
Es waren die Finger ihrer Tochter, vom Daumen bis zum kleinen Finger, überpeinlich in der richtigen Reihenfolge angeordnet und mit dem Schmuck daran. »Vraccas«, ächzte sie hilflos. Die Angst vor dem morgigen Umlauf steigerte sich. In dem nächsten Päckchen würde Sandas Unterarm liegen, der rechte; und bald darauf der Oberarm, dann die Finger der anderen Hand. Stückchen für Stückchen. Ihre grausame Vorstellungskraft zeigte ihr die verstümmelte Tochter, von der in Kürze nicht mehr als ein blutiger Torso mit einem Kopf am oberen Ende übrig wäre. Goda hörte ihr Schreien, ihr Flehen, ihr Weinen weil ihre Mutter sich weigerte, einen Zwerg umzubringen, den sie nicht einmal für den echten Tungdil hielt...
»Ich kann es nicht«, schluchzte sie und warf sich vor den Schrein. »Ich kann meine Tochter nicht zugrunde gehen lassen, Vraccas. Nicht für einen Scharlatan, auf den alle hereinfallen außer mir.« Sie starrte das Figürchen an. »Ich muss den Handel mit dem Feind eingehen, Vraccas! Ich habe keine andere Wahl, als...«
Es klopfte laut gegen ihre Tür. »Herrin! Herrin, komm! Ein Wunder ist geschehen!«, hörte sie die Stimme eines Soldaten.
Goda wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und öffnete.
»Herrin, deine Tochter! Sie ist wieder da und wartet unten am Tor auf dich!«, rief der Soldat überschwänglich.
»Meine ... Tochter?« Sie sah zum Tisch, wo das Kistchen mit den Fingern stand, dann rannte sie los. In ihrem Kopf rasten die Gedanken, wirbelten durcheinander, wurden von unbändiger Freude und heftiger Überraschung immer wieder überlagert. Und als sie endlich am Südtor angelangt war, stand sie vor Sanda!
Sie trug noch immer ihr Kettenhemd, doch es hing lose und nachlässig geschnürt an ihr; das Gesicht war von Schlägen gezeichnet, der rechte Ärmel des Untergewands troff vor Blut, und die braunen Haare hingen schmutzig, fettig herab. Doch Sanda lächelte.
»Tochter!« Goda nahm sie in die Arme und drückte sie mit geschlossenen Augen an sich. So verharrten sie mehrere Lidschläge lang, bevor sie sich trennten. »Was hat er dir angetan?« Besorgt sah sie in die braunen Augen.
Sanda wich ihrem Blick aus, in den Pupillen flackerte es. »Geschlagen und gedemütigt. An einem Ort, wie ihn Tungdil beschrieb, als er von der Welt hinter der Schwarzen Schlucht sprach«, wisperte sie verstört und begann zu zittern. Sie schlang die Arme um sich. »Ich möchte niemals mehr dahin«, sagte sie laut und sah ihre Mutter an. »Eher sterbe ich.«
Goda wollte etwas sagen, dabei richteten sich die Augen auf den rechten Arm, um nach der Wunde zu sehen, und erkannten eine gesunde Hand mit allen fünf Fingern! Sie vergaß, was sie hatte fragen wollen, und griff danach. »Wie ist das möglich, Sanda?« Die Gliedmaßen sahen rosa und zart aus wie die eines Neugeborenen. »Der, der viele Namen trägt, hat sie mir abgeschlagen«, berichtete sie mit brüchiger Stimme, »und ließ mir gleich neue Finger wachsen. Es tat fürchterlich weh, aber nicht so weh wie das, was ich sonst noch erlitt.« Sie sah auf die Hand. »Was ich sonst noch erlitt...«, wiederholte sie leise und wankte.
Goda stützte sie. »Wieso hat er dich gehen lassen?«
»Er hat mich nicht gehen lassen. Ich bin geflohen«, sagte Sanda, deren Knie einknickten. Rasch setzte Goda sie auf eine Bank und ließ Wasser bringen. »Ich bin geflohen und gerannt, Mutter. Gerannt, umhergeirrt und doch entkommen.« Sie sah wieder auf ihre Hand. »Rasch, gib mir ein Messer!«, schrie sie unvermittelt und hielt den Arm weit weg. »Das sind nicht meine Finger! Es sind seine! Er hat sie mir nachwachsen lassen! Sie gehorchen sicherlich seinem Willen!«
»Beruhige dich, Tochter!« Goda nahm sie in den Arm und wiegte sie, wie sie es mit ihr als Säugling getan hatte. »Du bist wieder bei uns.«
Sanda hustete. »Es sind

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