Das Schiff aus Stein
»Ja, so ist es wohl, und ich freue mich, dass du darüber lachst, Oliver. Es ist wirklich schön, die Wahrheit zu entdecken. Und du hast vollkommen recht. Wir Meister wissen auch nicht alles. Das sollte euch Ansporn sein, den Dingen immer wieder selbst auf den Grund zu gehen! Was nun aber die Erfahrungen mit gefährlichen Situationen angeht, so können wir das gleich mal ausprobieren. Ich hoffe, ihr seid alle sichere Schwimmer?« Er blickte in die Runde.
Anselm, Bent, Rufus, Filine, No und Oliver nickten überrascht.
»Gut! Außerdem hoffe ich, ihr seid schnell und wendig genug, um dem Wasser auch sonst zu entkommen. Sobald es sich nähert, steht euch nämlich jeder Fluchtweg offen: schwimmen, klettern, rennen.«
»Welches Wasser denn, bitte?«, fragte Bent.
»Ach so, entschuldigt, das hätte ich fast vergessen.« Direktor Saurini schüttelte den Kopf über seine Nachlässigkeit. »Ich werde euch heute mit Fluten bekannt machen, die sich auf dem Wasser abspielen. Also auf Flüssen, im Meer, in Seen. Fluten auf dem Wasser haben ihre eigenen Bedingungen, und mit denen müsst ihr euch natürlich vertraut machen.«
»Und wo soll das Wasser herkommen?«, grinste Anselm. »Der Kanal liegt doch seit Ewigkeiten trocken. Sollen wir vielleicht so tun, als ob es hier Wasser gäbe?« Er machte ein paar übertriebene Schwimmbewegungen, kicherte und warf Bent einen Blick zu.
»Ja, ja, noch sieht es so aus!«, antwortete Saurini ruhig. »Aber glaubt nicht, dass da kein Wasser wäre. Es ist da, ihr seht es nur noch nicht. Und ihr geht ganz sicher darin unter, sobald ihr es sehen werdet. Wenn ihr erst einmal unter Wasser seid, werdet ihr nach einem kurzen Moment des Erschreckens spüren, dass ihr unbedingt Luft holen wollt. Geist und Körper reagieren auf Wasser in einer Flut wie im wirklichen Leben. Und wenn es so weit ist, müsst ihr an die Wasseroberfläche gelangen. Denn wenn ihr keine Luft holt, scheitert die Flut.«
»Immer noch besser als ertrinken«, murmelte No.
»Du hast doch gehört, dass das noch nie vorgekommen ist«, flüsterte Filine.
»Aber es könnte passieren«, mischte sich Rufus ein. »Und deswegen muss man vorsichtig sein.«
»Ich glaube ja nicht, dass man ertrinken kann«, sagte Bent plötzlich. »Ich glaube, es ist noch nie passiert, weil es einfach nicht passieren kann.«
»Bewahrt euch euren Glauben, aber seid trotzdem vorsichtig«, erklärte Direktor Saurini. »Ihr seid in der Flut auf euch allein gestellt. Ihr wisst, dass ich als alter Meister die Fluten nicht mehr so leicht sehe, deswegen kann ich euch nicht zur Hilfe eilen. Und jetzt kommt her.« Er stieg auf das Floß, das aus einigen mächtigen Stämmen zusammengeschnürt war, und winkte die Lehrlinge zu sich. Dann hob er das Buch, das er die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte. »Ihr alle kennt dieses Buch, die Aufzeichnungen der Brüder Micheluzzi.«
Rufus nickte automatisch. Er hatte das Buch bei seinem ersten Treffen mit Direktor Saurini auf dessen Schreibtisch gesehen und angefasst. Dabei war eine Szene aus der Vergangenheit der Akademie lebendig geworden. Es war das erste Mal gewesen, dass Rufus eine Flut erlebt hatte. Er hatte damals gesehen, wie die Gründer der Akademie sich über den Namen für diese geeinigt hatten. Oder vielmehr, sich um ihn stritten, denn zwischen den beiden Zwillingsbrüdern Paolo und Giorgio Micheluzzi waren ordentlich die Fetzen geflogen, ehe sie sich auf »Akademie des leibhaftigen Studiums vergangener Zeiten« geeinigt hatten.
Direktor Saurinis Stimme unterbrach Rufus’ Gedanken.
»Wir verfahren in diesem Unterricht folgendermaßen. Ihr fasst euch alle an den Händen oder legt eurem Vordermann die Hand auf die Schulter und bildet eine Schlange. Dann fasst der Erste in der Reihe das Buch an. Anschließend werdet ihr sehen, was passiert. Solltet ihr in der einsetzenden Flut voneinander getrennt werden, müsst ihr sofort wieder das Buch selbst oder einen eurer Mitlehrlinge berühren, der mit dem Buch in Berührung ist, sonst verliert ihr sie ziemlich schnell!«
Der Direktor winkte Anselm zu sich. »Du kommst zu mir und wartest, bis alle anderen sich berühren und einer von ihnen dir die Hand gibt oder dich berührt. Dann fasst du das Buch an.«
Aufgeregt fuhr sich Anselm mit der Zunge über die Lippen und trat vor.
Oliver steckte seinen Block und den Stift weg und legte eine Hand auf Filines Schulter. Filine nickte ihm zu und legte ihrerseits ihre Hand No auf die Schulter. No fasste nach Bent,
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