Das Schiff der Hoffnung
zwingenden Augen sofort durchschaut hatte. »Alles …«
»Ihre Sekretärin?«
»Ist bereits seit Tagen in Deutschland.«
»In Ihrem Betrieb?«
»Nein. In Wiesbaden. Sie hat gekündigt und tritt eine Stelle in einer Sektkellerei an, Baron von Bronneck.«
Professor Kraicic nickte. »Dann werden Sie das Wunder erleben, wie schnell ein Mensch heilen kann. Nicht nur die Operationswunde verheilt … auch der seelische Schmerz.«
»Welch ein Glück, daß wir nicht allein dem HTS ausgeliefert waren«, sagte Karl Haußmann.
»Es hätte in diesem Fall wenig geholfen, nein, gar nichts. Aber es scheint doch, als wenn man dem Kollegen Zeijnilagic Unrecht getan hätte. Die staatliche Gesundheitsbehörde hat nach vielen Protesten, vor allem aus dem Ausland, die Herstellung der HTS-Kapseln wieder freigegeben. Aber nun unter ständiger Kontrolle. Die chemische Fabrik Bosna-Lijek in Sarajewo, Blagoja Parovica, stellt sie jetzt her und gibt sie zu Forschungszwecken, aber auch an Patienten und Ärzte kostenlos ab.«
»Sie helfen also wirklich?« fragte Haußmann.
»Das müssen wir abwarten.« Professor Kraicic sah aus dem Fenster hinaus in den etwas staubigen, sonnendurchglühten Klinikgarten. »Ich habe auch einige hundert Kapseln kommen lassen. Ich habe neun inoperable Krebsfälle auf Station I. Eine wichtige Veränderung im Allgemeinbefinden haben wir festgestellt, und sie sind wertvoll für einen Krebskranken, dessen psychologische Betreuung mit am Anfang jeder Therapie steht: Das HTS regt den Appetit des Kranken an, fördert die Verdauung, hebt sein allgemeines körperliches Befinden und gibt ihm durch diese Kleinigkeiten neuen Lebensmut. Außerdem wirkt HTS schmerzlindernd und befreit den Kranken von starken Schmerzen ohne das Gift des Morphiums. Interessant ist, daß HTS auch hilft bei Ulcus, Gastritis chronica und rheumatischem Ischias. Natürlich müssen eingehende Kontrollen durchgeführt werden, deshalb ist es leichtsinnig, einem Kranken das Mittel ohne ärztliche Betreuung zu geben. Kommt erneut Fieber auf, zeigt sich Durchfall, läßt der Kranke innerhalb von vierundzwanzig Stunden weniger als einen halben Liter Urin, dann muß man unterbrechen. Außerdem soll man das HTS mit einer Hormon-Polyvitamintherapie unterstützen … es ist nicht damit getan, daß man HTS nimmt wie ein Bonbon … Auch bei Wundermitteln braucht man den Arzt.«
»Und wenn der Arzt das Mittel ablehnt?«
»Dann ist er ein kurzsichtiger Arzt. Revolutionen in der Medizin beginnen nicht immer im Großlabor. Und Borniertheit hat noch keinem Patienten geholfen. Ich weiß …« Professor Kraicic hob die Hand, als Haußmann etwas entgegnen wollte. »Ich kenne die Trägheit der meisten Ärzte. Da hat man eine große Praxis mit täglich sechzig bis hundert Patienten, die man gar nicht individuell untersuchen kann. Und da legt man sich zehn Stammrezepte zu, die man verteilt. Ein bißchen Theater vorweg … Zunge zeigen, hier und dort drücken, Blutdruck messen, wenn's hoch kommt, Abhören mit dem Stethoskop … und dann Rezept Nr. 7! – Ich weiß das alles, Herr Haußmann! Aber viel schuld ist Ihr System mit den Krankenscheinen. Das verleitet zur Gleichgültigkeit gegenüber dem Individuum. Bei uns ist das anders. Wir sind Staatsbeamte. Das Gesundheitswesen ist staatlich. Die Behandlung der Kranken ist frei. Wir bekommen ein Gehalt. Die Jagd nach dem Krankenschein ist vorbei. Und wir haben Zeit und vor allem Interesse für den Menschen; wir brauchen nicht um eine volle Kartei zu ringen. Bei uns ist der Kranke nicht Inhaber eines Krankenscheins, der ein Vierteljahr Sicherheit für den Arzt bedeutet, sondern ein Teil unseres Volkes, das man gesundhalten muß. Damit das ganze Volk, unser Staat gesund bleibt.«
»Erzählen Sie das mal in Deutschland.« Haußmann lächelte sauer. »Die Ärzte würden sich zusammenfinden, Sie für irr erklären und in einer Heilanstalt verschwinden lassen.«
Professor Kraicic nickte wieder. »Ich weiß. Das unterscheidet uns von der kapitalistischen Welt. Darum geben wir auch das HTS kostenlos ab. Als es verboten wurde, wurde eine Kapsel HTS mit zwei Gramm purem Gold auf dem Schwarzmarkt gehandelt. So etwas ekelt uns an. Diese Geschäftemacher mit der Todesangst sollte man aufknüpfen.«
Haußmann schwieg. Er sah Kraicic in die ernsten Augen. Jetzt ist er wieder Orientale, dachte er. Aufknüpfen. Das sagt er, der große Chirurg von Mostar. Welches Rätsel ist doch der Mensch!
Ein Rätsel und ein Wunder geschah aber
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