Das Schlangenmaul
sogar ihr Mann weggelaufen ist – und Paul ist wahrlich kein Heiliger. Er ist nur ein Schwächling. Was erwarten Sie denn als Produkt einer Ehe zwischen solchen Menschen?«
»Ich weiß nicht«, sagte ich und drückte die Zigarette aus. »Vielleicht eine große Begabung für die Oper?«
Sie schoß einen scharfen Blick auf mich ab. »Vielleicht sollte ich Ihnen erklären, daß ich bereits zweimal meine Familie verloren habe – einmal mit dem Ende des Krieges, und dann mit dem Tod meines Mannes. Wir hatten keine Kinder. Das, was ich jetzt noch an Familie habe – hier, in diesem Haus –, werde ich nicht verlieren, solange ich noch am Leben bin. Jedes Mal, wenn Miriam in den letzten Jahren hier war, kam mit ihr etwas ins Haus, was ich fast körperlich wahrnehmen konnte – etwas Böses, junger Mann, etwas durch und durch Negatives und Zerstörerisches. Die Jungens – die beiden Söhne meiner Nichte, beide in Miriams Alter – waren davon jedes Mal wie infiziert. Mal lethargisch, mal aufsässig, gereizt, hypernervös, wie unter einem bösen Bann. Wenn Miriam wegführ, verschwanden die Symptome. Und kehrten erst mit ihr zurück. Vielleicht kann sie ja nichts dafür. Manche Menschen tragen eben das Böse mit sich herum wie eine ansteckende Krankheit.«
»Sie denken an eine Art geistig-moralisches AIDS?«
»Wollen Sie leugnen, daß es das gibt? In Ihrem Beruf müßten Sie damit doch vertraut sein.«
»Mit dem Bösen an sich können wir in unserer Branche wenig anfangen. Ein paar handfeste Fakten wären mir lieber.«
»Die habe ich Ihnen gerade gegeben, Herr Harder.«
»Hat sie Ihnen gegenüber je einen gewissen Michael Malzan erwähnt?«
»Malzan? Der Name sagt mir nichts. Sie muß wohl Freunde in Berlin haben. Als sie über Ostern hier war, hat sie sich kaum blicken lassen. Wir waren ziemlich erleichtert darüber, das können Sie mir glauben.« Ihre Finger flatterten über ihre Dauerwelle. »Ach ja, jetzt fällt mir etwas ein. Als sie eines Tages zum Frühstück erschien – natürlich zu einer Zeit, wenn wir schon zu Mittag essen –, fiel mir ein Anhänger auf, den sie trug. Ein Silberschmuck in Form einer stilisierten Schlange. Ich fragte sie, ob das indianisch sei – man findet solche Sachen in Mexiko –, und sie sagte, indianisch nicht, Tante, indisch. Und dann verlor sie ein paar Worte über diese merkwürdige Sekte von Schlangenbeschwörern, wo sie anscheinend verkehrte. Schlangenbeschwörer in Berlin – nun ja.«
»Sie hat nicht zufällig eine Adresse erwähnt?«
»Ich glaube, sie erwähnte die Bleibtreustraße. Ja, ich erinnere mich noch daran, weil meine Schneiderin dort ihr Atelier hat. Stellen Sie sich das mal vor, und nebenan beschwören diese Leute Schlangen. Nun, es wird wohl so ein Guru sein, der damit den Leuten das Geld aus der Tasche zieht. Oder etwas wirklich Kriminelles. Das ist es ja meistens.«
»Hatte diese Sekte einen Namen?«
»Das dürfen Sie mich nicht fragen.«
»Ob Ihre Neffen den Namen vielleicht wissen?«
»Meine Neffen haben im September ihr Studium an der Bundeswehrhochschule in München aufgenommen, Herr Harder.«
»Ja, da haben sie natürlich andere Gurus.«
»Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen«, schloß Frau Richter die Audienz, »ich glaube nicht, daß ich Ihnen bei Ihren Ermittlungen weiterhelfen kann. Ich, oder sonst jemand in diesem Haus.« Sie wischte die Karte über den Tisch. »Und nehmen Sie das wieder mit. Ich halte es für ziemlich unwahrscheinlich, daß wir Ihre Dienste jemals in Anspruch nehmen werden.«
Ich steckte den Karton wieder ein. Vielleicht hielt sie ihn für ansteckend. Vielleicht trug er das Böse in sich. Als wir in der Diele waren, fand Frau Richter sich doch noch zu einer Erklärung genötigt.
»Sie mögen mich für eine hartherzige alte Frau halten, aber Miriams Verschwinden überrascht mich nicht im mindesten. Und ich bin froh, daß wir sie hier nicht mehr haben werden.«
»Wären Sie auch froh, wenn sie tot wäre?«
»Jeder Mensch ist für sein Schicksal mitverantwortlich, Herr Harder.«
»Und nur der liebe Gott vergibt die Sünden.«
»Immerhin war ich die einzige in diesem Haus, der Miriam nie etwas vorzumachen brauchte.«
»Eine Art Seelenverwandtschaft?«
»Ich überlasse es Ihnen, das herauszufinden.«
»Noch eine letzte Frage, gnädige Frau: Wer ist der Glückliche auf diesem Foto?«
Neben der Garderobe war eine kleine Fotogalerie, und ein Foto zeigte den Vorgänger des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, der
Weitere Kostenlose Bücher