Das Schlangenschwert
kurz über Wortbruch, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit und erklärte, dass er sich nach reiflichem Nachdenken dazu entschieden hätte, von seinem Recht auf Begnadigung keinen Gebrauch zu machen. Die Menge applaudierte.
Auf einmal begannen alle dermaßen zu toben, dass sich sogar Lion zum Gerüst umwandte. Das hier war eindeutig noch nicht die Hinrichtung. Hier ging etwas völlig anderes, wahrscheinlich Wichtigeres als jegliche Rechtssprechung vor sich.
Hinter dem Rücken der Zivilisten trat eine kleine Frau in einem langen Kleid, langen Spitzenhandschuhen und einem Gesichtsschleier hervor.
»Die Herrscherin!«, schrie Lion begeistert. »Frau Präsident!«
Die Menschenmenge tobte.
Ich wurde beinahe umgerissen, so eilig strömten alle zum Gerüst. Neben mir wurde vor lauter Begeisterung geschrieen, geweint und gelacht. Frauen und Kinder – es gab trotz allem Kinder in der Menschenmenge – wurden auf den Arm genommen und auf die Schultern gesetzt, damit sie die Präsidentin Inna Snow besser sehen konnten. Auch ich wurde plötzlich gepackt und fand mich auf den breiten Schultern eines solide wirkenden Mannes mit einem vor Begeisterung verzerrten Gesicht wieder. Er weinte und lachte gleichzeitig.
»Schau hin, Kleiner!«, schrie er mir zu. »Schau hin und präge es dir ein!« Und dann, mich sofort wieder vergessend: »Frau Präsident! Frau Präsident!«
Ich war der Situation hilflos ausgeliefert. Ich schaute mich um. Neben mir wurde Lion von einem dürren, jung aussehenden Mann genauso wie ich hochgehoben und auf die Schultern gesetzt. Ich sah mich um und realisierte, dass ich eine allgemeine Hysterie miterlebte: Die Menschen wollten nicht nur selber Inna Snow sehen, sondern auch anderen helfen, sie zu erblicken. Unweit von uns entfernt wurde ein recht erwachsener Mann nach oben gehoben. Er war von kleinem Wuchs und konnte deshalb schlecht sehen, was passierte.
Und wir wollten einen Überfall vorbereiten und Tien befreien!
Wie waren wir nur dumm und naiv... Diese Menschenmenge hätte jeden beim Versuch einer Attacke auf die Personen, die sich auf dem Gerüst befanden, in Stücke, in kleine Krümel, in Moleküle zerlegt!
»Was bist du so schweigsam, du brauchst dich nicht zu schämen!«, schrie mir der mich tragende Mann zu.
Ich wagte es nicht, ruhig zu bleiben.
»Inna Snow! Inna Snow!«, begann auch ich zu schreien. »HERR-SCHE-RIN! FRAU PRÄ-SI-DENT!«
Die Menge schäumte. Inna Snow hob eine Hand und begrüßte ihre Untertanen.
Dann hob sie die zweite Hand und alle verstummten.
»Das Böse schafft Böses, das Gute – Gutes«, verkündete Inna Snow. Ihre Stimme wurde ebenfalls verstärkt, aber sie schien zu flüstern, sehr zu Herzen gehend und nicht mit der Menschenmenge, sondern nur mit mir allein zu sprechen. Außerdem vibrierte ihre Stimme eigenartig, aber mir vertraut, als ob sie die ganze Zeit über Intonation und Timbre wechselte.
»Herrscherin...«, flüsterte auch ich. Ich hörte es nicht, sondern fühlte, wie jeder Einzelne auf dem Platz dieses Wort herausstieß, wie es sich wie ein leichter Sirenenklang durch die Straßen Agrabads verbreitete.
»Dieser Mensch kam zu uns mit dem Tod. Mit einem schlimmen, fürchterlichen Tod für jeden Einwohner Agrabads. Ich habe keine Angst um mich, denn ich kann nicht sterben. Und das Mindeste, das Gerechteste, was man tun kann, ist, diesen Menschen namens Sjan Tien zu richten.«
Die Masse schwieg und wartete.
Inna Snow starrte auf Tien: »Er brachte den Tod zu euch. Meinen Freunden. Meinen Kindern.« Und sie wandte sich von ihm ab.
»Wäre das aber wirkliche Gerechtigkeit? Ich möchte mich mit euch beratschlagen. Dieser Mensch ist ein Phag – ein genetisch modifizierter Mörder, ein Terrorist, herangezogen in den Labors des Avalon. Er hat nie seine Eltern kennen gelernt. Sein Genom ist ein Mosaik aus Genen, die von einem Dutzend Spendern stammen. Seit frühester Kindheit lehrte man ihn zu töten und zu verraten. Man hielt menschliche Gefühle von ihm fern, erzog ihn zu Grausamkeit und Unbarmherzigkeit, unfähig zu lieben, unfähig zu leiden. Er ist lediglich ein Instrument in den Händen einer feigen, käuflichen Macht, die ihr Ende nahen sieht. Ja, das Imperium ist bereit, die gesamte Galaxie mit Strömen heißen Menschenbluts zu überziehen und uns schutzlos und ausgeblutet den fremden Rassen zu überlassen. Aber werden wir auch nur einen überflüssigen Tropfen Blut in diesen Strom einspeisen? Ich weiß, wie gering die Chance ist, dass sich dieser
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