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Das Schlangenschwert

Das Schlangenschwert

Titel: Das Schlangenschwert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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Mensch ändern wird. Aber es gibt diese Chance. Können wir uns diese Barmherzigkeit leisten? Sind wir dafür stark genug? Glauben wir an uns? Sind wir fähig zu verzeihen?«
    Die Menschenmenge schwieg. Ich schwieg ebenfalls. Ich wusste nicht, was ich erwidern sollte. Die Herrscherin sollte mir einen Hinweis geben, mir erklären, was ich wollte – die Hinrichtung Tiens oder Barmherzigkeit.
    »Wir erwidern Böses nicht mit Bösem«, flüsterte die Präsidentin ganz leise.
    Ich erzitterte und schloss die Augen, als ich kapierte, wie für mich gedacht wurde. Was ist das hier für eine Einflüsterung? Sie faselt doch Unsinn, diese Inna Snow! So etwas ist Demagogie! Was heißt hier »Das Böse erschafft Böses«? Sjan Tien konnte nicht den ganzen Planeten mit einer todbringenden Krankheit infizieren, er hätte so etwas nie gemacht! Wieso benutzte man da einen menschlichen Terroristen? Man könnte viel eleganter aus dem Weltraum eine kleine Eiskapsel auf den Planeten werfen, die im Luftraum über der Hauptstadt schmelzen würde und schon wäre das Ziel erreicht! Und überhaupt sind die Phagen weder gefühllos noch erbarmungslos! Und das Imperium will mit niemandem Krieg führen!
    Aus welchem Grund aber hatte ich begonnen genauso zu denken, wie Inna Snow es wollte? Ich gehörte doch nicht zu den Hirnamputierten!
    Vielleicht deshalb, weil sich um mich herum Tausende Menschen befanden, die alle das Gleiche dachten? Das wäre dann eine Art Reihenschaltung. Man benötigt keinerlei Apparate, um alle Menschen gleichzuschalten, sie zu Teilen eines Mechanismus werden zu lassen: Mach sie zum Teil einer Menschenmasse! Schau mit den Augen der Masse, höre mit ihren Ohren, schreie mit ihrer Stimme!
    Und schon erstirbt jeglicher Gedanke.
    »Schenken wir diesem Menschen die Freiheit?«, stellte Inna Snow in den Raum. Sie schaute nach oben auf den schwebenden Flyer und der dunkle Schleier legte sich auf ihr Gesicht und zeichnete die Konturen nach. Die Menge stöhnte, als ob sie das Gesicht der Frau Präsidentin genauer sehen wollte. »Soll er sich zu seinem Herrn scheren, dieser treue Hund des Imperators! Soll er Zeugnis ablegen von unserer Verachtung, unserem Willen und unserer Kraft!«
    »Ja!«, jauchzte die Menge. Mir dröhnten die Ohren. Der Mann, der mich hochgehoben hatte, sprang herum wie ein Kind und wedelte mit den Armen. Ich begann herunterzurutschen, er hielt mich fest, setzte mich wieder gerade und rief fröhlich:
    »Wie gut sie ist! Junge, wie gut sie ist! Wie gut!«
    »Du bist ein hirnamputierter Verrückter«, sagte ich. Er konnte mich sowieso nicht hören. Im selben Augenblick hatte er mich vergessen und fing wieder an mit den Armen zu wedeln. Um uns herum liefen die Leute Amok.
    Auf dem Gerüst nahm man endlich Tien die Schlinge vom Hals und stellte eine hölzerne Leiter direkt in die Masse.
    »Soll er gehen«, wiederholte Inna Snow. »Lasst ihn passieren, Bürger. Berührt ihn nicht. Soll er zum Kosmodrom gehen, sich in sein Raumschiff setzen und den Planeten verlassen. Niemand soll ihm zu nahe kommen!«
    Sjan Tien wartete geduldig. Ihm wurden die Fesseln an Händen und Füßen abgenommen. Er rieb seine Handgelenke, danach ging er auf Inna Snow zu. Er sprach zu ihr. Man hörte seine Worte nicht, wohl aber die Antwort der Herrscherin: »Eure Psychoweisheit hat keine Wirkung auf mich. Ich werde den Schleier an dem Tag lüften, an dem die Menschheit das Joch des Imperators abgeschüttelt haben und eine Familie bilden wird. Geh, Phag, geh zu deinen Herren.«
    Tien zuckte mit den Schultern. Langsam stieg er vom Gerüst. Die Menge wich zur Seite und bildete einen Freiraum um ihn. Tien sah sich um. Er ging – und der Freiraum um ihn herum bewegte sich mit ihm. Die Menschen sprangen zur Seite, als ob der Phag selber die Beulenpest hätte.
    Ich bekam nicht mit, wer ihn als Erster anspuckte. Es waren gleich ungeheuer viele, die Sjan Tien anspuckten und dabei versuchten, ihn ins Gesicht zu treffen.
    Tien schien die Erniedrigung nicht zu bemerken. Er ging weiter. Direkt auf mich zu. Der Freiraum folgte ihm.
    Ich zappelte und versuchte ihm aus dem Weg zu gehen, es war aber bereits zu spät. Die Menschenmasse presste sich zusammen und ich wurde direkt gegen Tien geschleudert – in die erste Reihe derer, die sich wie verrückt gebärdeten, schrien und spuckten wie ungezogene Kinder. Tiens Blick glitt über mich, ohne sich zu verändern, aber ich wusste, dass er mich erkannt hatte.
    Ich sammelte den Mund voller Speichel und spuckte

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