Das Schlangental - Neal Carey 3
drei Zeitungen täglich zu lesen, liebte sein Leben in der Großen Einsamkeit . Neal, dessen bisherige Erfahrungen mit Rindviechern darin bestanden hatten, sich einen Cheeseburger in den Mund zu schieben, gefiel es mittlerweile, Mills’ Kühe von ihren Sommerweiden in den Bergen herunterzutreiben. Neal, der einst den Hudson und den East River als die Grenzen des Universums aufgefaßt hatte, genoß jetzt das Panorama der Sonnenauf- und Untergänge über der endlosen Weite. Neal, dessen Tragfähigkeit mit einem großen Kaffee zum Mitnehmen stets ausgeschöpft gewesen war, fand jetzt nichts dabei, Heuballen aufzustapeln, Maschendraht zu spannen, Löcher für Pfosten zu graben oder ein Kalb festzuhalten, das eine Spritze brauchte. Neal, der es nicht hatte abwarten können, nach seinen einsamen Jahren in China zurückzukehren nach New York, blieb jetzt lieber hier in der wunderbaren Einsamkeit des Reese River Valley, anstatt sich in die Enge des Big Apple zurückzubegeben.
Also würde er nicht mehr weitermachen. Dieses würde sein letzter Job sein. Er würde Cody McCall finden, solange das eben dauerte. Aber wenn das vorüber war, würde er hier in diesem Tal bleiben. Er würde sein ganzes Geld nehmen und sich ein Eckchen hier kaufen, vielleicht sogar diese Hütte. Er würde nicht mehr zur Uni gehen können, aber man mußte nicht auf die Uni gehen, um Bücher zu lesen. Genaugenommen hatte er in den letzten zwei Monaten mehr Zeit gehabt, zu lesen, als in den letzten fünf Jahren.
Sobald ich Cody McCall gefunden habe, kündige ich, dachte Neal, während der Kojote hinter einem kleinen Busch hervorspähte.
Er schlüpfte aus seinen Sachen, zog seine Plastiksandalen an, schlurfte rüber zu dem Leinensack. Er trat auf die Holzplattform, die er gebaut hatte, drehte den Hahn auf, ließ das Wasser auf sich niederrieseln, drehte den Hahn zu. Er seifte sich ein, wusch sich das Haar, und öffnete den Hahn wieder, um sich abzuspülen. Dann schäumte er sich das Gesicht mit Seife ein, kniete sich hin, um in den Spiegel zu schauen, der am Stamm des Baumes hing, und rasierte sich.
»Sich rasieren«, hatte Peggy Mills ihn gewarnt, »ist das, was dich von den bescheuerten Überlebenskünstlern unterscheidet. Wenn du aufhörst, dich zu rasieren, dann bist du ein bißchen zu sehr Bergmensch geworden. Also rasier dich, Neal, und ich nerv’ dich nicht und mach’ mir keine Sorgen um dich.«
Das war ein guter Deal, also kratzte sich Neal pflichtbewußt jeden Tag das Gesicht glatt und fühlte sich besser dadurch. Eine der Herausforderungen des einfachen Lebens ist es, sauber zu bleiben, und einen Bart zu haben, würde das viel schwieriger machen; er war ein Hort für Schweiß, Schmutz und tote kleine Käfer. Außerdem war heute sein großer Tag der Woche, der Tag, an dem sie in die Stadt fuhren, und er genoß es immer, den Einwohnern zu zeigen, daß er sie noch alle beisammen hatte. Das war sein Stolz. Er zog ein einigermaßen sauberes Jeanshemd an, eine Jeans und eine Jacke, setzte dazu seinen brandneuen schwarzen Stetson auf. Es war Samstag, sein großer Tag in der Stadt.
Dann ging er rüber zum Haus der Mills’. Er mußte nicht über seine Schulter schauen, um zu wissen, daß der Kojote ein gutes Stück hinter ihm her trottete.
Weit oben in den Bergen lag ein alter Mann versteckt in den Büschen und beobachtete ein Kaninchen auf der Lichtung, nur ein paar Meter vor sich. Der alte Mann war nackt, abgesehen von einem Lendenschurz aus flachgeklopftem Beifuß. Sein langes Haar war weiß, genauso wie die wenigen zottigen Barthaare, die von seinem Kinn herunterhingen. Er war klein, deutlich unter einsfünfzig, und seine kupferne Haut schmiegte sich eng an die geschmeidigen, kräftigen Muskeln. Der alte Mann lag ganz still, als das Kaninchen den Kopf hob, seine Nase zuckte, es schnupperte.
Das bereitete dem alten Mann keine Sorgen. Er hatte sorgfältig darauf geachtet, im Windschatten seiner Beute zu bleiben, und er hatte das Kaninchen schon so viele Tage beobachtet, hatte seine Gewohnheiten kennengelernt. Fleisch war schwer zu bekommen, das Kaninchen war eine wachsame Beute, und seine Reflexe waren nicht mehr so gut wie sie in seinen jungen Jahren gewesen waren. Dem alten Mann war klar, daß die Tage, an denen er durch Geschwindigkeit und Kraft überleben konnte, lang vergangen waren; jetzt mußte er das durch Erfahrung und Geschick ausgleichen.
Das Kaninchen senkte seine Nase zu Boden und hoppelte langsam auf den Busch zu. Der
Weitere Kostenlose Bücher