Das Schloß der blauen Vögel
entgegen, als sie ein paar Schritte auf ihn zu machte. »Ich sehe alles genau. Gehen Sie ruhig ein wenig nach vorn. In dem Augenblick, wo er seinen Wagen verläßt, schalte ich die Scheinwerfer ein und fahre sofort heran.«
»Ich habe aber Angst«, sagte Luise schwer atmend. »Wenn er es nicht ist?«
»Ich habe den Gang eingelegt und den Fuß auf der Kupplung. So schnell, wie ich gezündet habe und bei Ihnen bin, kann er gar nicht laufen.«
»Trotzdem. Mir ist es unheimlich …« Luise blickte sich zu dem weißen Kombiwagen um. »Warum rührt sich nichts?«
»Er beobachtet Sie.«
»Und wenn es ein harmloser Wagen ist?«
»Dann war alle Aufregung umsonst … leider.«
»Lange halten meine Nerven das nicht aus.« Luise Sassner ging langsam zu ihrem kleinen Wagen zurück. Drei Meter trennten sie von Gerd Sassner, der wie eine Katze im Gras lag, geschützt vom schwarzen Schatten der Bäume.
Er lag ganz still, obgleich sein Herz wild zu hämmern begann.
Sie warten auf jemanden, dachte er enttäuscht. Sie sind gar kein Liebespaar, sie betrügen ihre Partner nicht, sie warten bloß.
Wer mögen diese Menschen sein?
Schlagartig, als falle eine Klappe über eine Glut, erlosch sein Interesse, erstickte seine mörderische Lust, verflog seine angestaute Wildheit.
Er wartete ab, bis sich die blonde Frau wieder in ihren Wagen gesetzt hatte, kroch dann in einem Bogen zurück zu seinem Kombi und nutzte das Einfahren eines Lastwagens auf den Rastplatz aus, um mit einem Satz hinter das Lenkrad zu springen, den Motor anzulassen und mit vollaufgeblendeten Scheinwerfern wieder hinauszurasen auf die Autobahn. Der Lastwagen fuhr an Sassners Stelle, bremste dort, die große Tür klappte auf, und ein Mann kletterte aus dem Führerhaus, lief in den Wald und nestelte schon während des Laufens an den Knöpfen seiner Hose.
Dr. Keller sprang aus dem Porsche und rannte zu Luise Sassner. Sie lag weit zurückgelehnt auf dem Sitz und schluchzte.
»Er war es nicht«, stammelte sie, als Keller die Tür aufriß. »Gott sei Dank, er war es nicht. Wie freue ich mich, Doktor, wie freue ich mich! Er war es nicht …«
»Es scheint wirklich so, als sei dies ein harmloser Fahrer gewesen … oder der Lastwagen hat ihn gestört.« Dr. Keller half Luise aus dem Auto und reichte ihr einen kleinen Zinnbecher.
»Was ist das?« fragte Luise.
»Cognac. Trinken Sie, Sie haben ihn jetzt nötig.«
Gehorsam stürzte Luise Sassner den Cognac hinunter und hustete dann ein paarmal. Dann aber warf sie die Arme weit auseinander, als wolle sie die ganze Welt umarmen.
»Er war es nicht!« wiederholte sie glücklich. »Lassen Sie uns jetzt zurück nach Stuttgart fahren. Bitte sagen Sie nicht: Weitermachen! Ich kann nicht mehr. Ich war nahe daran, laut zu schreien. Diese Stille war fürchterlich.« Sie lehnte sich an Dr. Keller und weinte plötzlich wieder.
Aus dem Wald kam der Lastwagenfahrer und kletterte zurück in seine Kabine. Er steckte sich genußvoll eine Zigarette an.
»Haben Sie sich die Nummer des Wagens gemerkt?« fragte Luise, als sie sich etwas beruhigt hatte. Aus seiner Schraubflasche füllte Dr. Keller noch einen Cognac in den Zinnbecher.
»Nein. Ich weiß, es war ein Fehler.« Dr. Keller gab Luise Sassner den Becher. »Ich war zu aufgeregt. Ich habe nur Sie beobachtet.«
»Es war ein Wagen aus Emmendingen.« Luise trank den Cognac wie eine belebende Medizin. »Das weiß ich noch. Die Nummer habe ich vergessen.«
»Ist ja auch nicht so wichtig.« Dr. Keller lächelte Luise beruhigend an. »Es war ja der falsche Wagen. Sie waren wirklich sehr mutig, Frau Sassner.«
»Danke, Doktor. Ein zweites Mal könnte ich es auch nicht.«
Sie stieg in ihren kleinen Sportwagen und brauste ab. Dr. Keller hatte Mühe, ihr in Sichtweite zu folgen.
Nie wieder, sagte sich Luise Sassner, als sie, froh, diese Nacht überstanden zu haben, über das glitzernde Band der Autobahn raste, nie wieder spiele ich den Lockvogel. Das war das erste und das letzte Mal.
In der Klinik Hohenschwandt hatte es während der Abwesenheit Professor Dorians große Aufregung gegeben. Dr. Kamphusen, den Dorian als Stellvertreter zurückgelassen hatte, war es gelungen, den geheimnisvollen Attentäter zu stellen, der nachts unter dem Namen Dr. Keller den Kranken verderbliche Spritzen injizierte.
Eigentlich war es nur ein Zufall, der Kamphusen auf die Spur brachte. Die Nachtschwester von Station II klingelte ihn per Haustelefon aus dem Bett: Zimmer 26, die schizophrene Patientin Frau
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