Das Schloß der blauen Vögel
Eisenreich, Gattin eines Brauereibesitzers aus Niederbayern, hatte einen neuen Schub ihres Wahns bekommen. Sie stand nackt mitten im Zimmer und unterhielt sich laut mit dem nur für sie sichtbaren galanten Kavalier Marquis de Reinville. Sie machte ihm Vorwürfe, daß seine Seidenhosen wieder nach Pferdeschweiß stanken. »Ich mag keine Pferde, das weißt du!« schrie sie mit sich überschlagender Stimme. »Warum muß ich immer diese Pferde riechen. Es macht mich krank … ganz krank … krank …«
Die Nachtschwester, die Frau Eisenreich eine Injektion geben wollte, war hilflos. Frau Eisenreich wehrte sich gegen sie, rief um Hilfe und befahl dem Marquis de Reinville, eine Kompanie Soldaten gegen Schwester Lotte zu mobilisieren.
Dr. Kamphusen steckte den Kopf unter den Wasserhahn und ließ sich den kalten Strahl über den Nacken rinnen. Er hatte am Abend vorher eine halbe Flasche Wodka allein getrunken. Das tat er jetzt öfter. Wenn er einsam in seinem Zimmer saß, eingesperrt mit seinen Gedanken, überkamen ihn Jammer und Elend.
Er machte sich keine Illusionen, wer er war. Dorian hielt ihn für einen mittelbegabten Arzt, Dr. Keller verachtete ihn als Speichellecker. Daß er im Augenblick von Dorian bevorzugt wurde, hatte nichts mit seinen Fähigkeiten zu tun … er war nur ein Schutzschild, den sich Dorian gegen Dr. Keller leistete. Vielleicht sogar nur ein Reizmittel im innerfamiliären Kampf.
Kamphusen lastete dies sehr auf der Seele. Er begann heimlich zu trinken. Weinerlich saß er jetzt oft in seinem Zimmer und sprach mit sich selbst.
»Du bist doch kein Rindvieh, Franz«, sagte er zu sich. »Du hast einmal den Ehrgeiz gehabt, ein großer Arzt zu werden. Deine Examina hast du mit gut bestanden, du hattest begonnen, dir mit Artikeln einen Namen zu machen, bis du zu Dorian kamst. Hier bist du zermahlen worden, einfach zermahlen. Dorians Genie hat dich überrannt. Als du begannst, ihn rückhaltlos und kritiklos zu bewundern, bist du als denkender Mensch gestorben. Du warst die ausführende Hand seiner Gedanken. Ein Instrument nur, weiter nichts. Und du bekamst Angst. Blödsinnige Angst, daß du am falschen Platz seist, daß man deine Dummheit merkte, daß man zu dir sagen könnte: ›Kamphusen, gehen Sie. Sie sind unfähig!‹«
Das war einfach zu sagen, denn jeder Arzt wirkte neben Dorian wie ein Schüler.
Der persönliche Streit mit Dr. Keller belastete ihn mehr, als er nach außen zeigte. Kamphusen hatte nichts gegen den jungen Schwiegersohn Dorians … es war nur die Furcht des Schwächeren, von dem Stärkeren weggedrückt zu werden. Ein Kampf um die Futterkrippe, weiter nichts.
Kamphusen frottierte sich ab, zog über seinen Schlafanzug den weißen Arztkittel, schlüpfte in die weißen Lederslipper und machte sich auf, zu Station II zu gehen.
Entgegen seiner Gewohnheit, den Fahrstuhl zu benutzen, ging er zu Fuß die Treppen hinauf.
Das große Schloßgebäude war dunkel. Im Treppenhaus und auf den Gängen der einzelnen Stationen brannte nur die Notbeleuchtung. Ein paar trübe Birnen unter Milchglas. Die Kranken schliefen. Nur aus Zimmer 11, dem ›Beruhigungsraum‹, klangen dumpfe Laute. Hier lag hinter dicken Polsterwänden und einer Doppeltür der tobende Reinhold Webster, ein Deutsch-Engländer, der mit Kupferaktien Millionär geworden war und dessen Hirn von der Syphilis zerfressen wurde. Er lag auf seinem Bett, festgeschnallt mit gepolsterten Lederbändern, schweißüberströmt und zitternd und heulte wie ein verhungernder Wolf. Dreimal täglich bekam er eine Injektion, mehr war nicht möglich, um den Kreislauf nicht zu sehr zu belasten. In den Stunden zwischen den Spritzen mußte man ihn toben lassen. Jeder in der Klinik wartete darauf, daß ihn dabei ein Infarkt erlöste.
Dr. Kamphusen machte einen Umweg zu Zimmer 11, öffnete die äußere Tür und sah durch die Klappe der inneren Tür. Reinhold Webster lag in seinen Lederfesseln, bäumte sich auf und ließ dann sein Gesäß krachend auf das Bett zurückfallen. Dabei heulte er schauerlich. Kamphusen sah auf seine Armbanduhr. Gleich zwei Uhr morgens.
Auf dem Rückweg gebe ich ihm eine Spritze, dachte er. Sie wird bis zum Frühstück wirken. Man kann ihn doch nicht so liegen lassen, schreiend wie ein Tier in einer Falle.
Kamphusen drückte die äußere Polstertür wieder zu und drehte sich um; dabei sah er, daß sich ganz am Ende des Stationsgangs lautlos eine Tür schloß. Gerade noch, im letzten Augenblick, ein paar Zentimeter nur bemerkte
Weitere Kostenlose Bücher