Das Schloß der blauen Vögel
nenne es einfach töten! Und ich töte nicht! Macht, was ihr wollt … aber sagt es mir nicht.«
Und so schossen der Jagdaufseher und ein paar Freunde Sassners heimlich die Krüppelböcke weg, reduzierten auch den Wildsaubestand, weil die Rudel die benachbarten Kartoffelfelder verwüsteten, und hielten die Hasen in tragbaren Zahlen. Von alledem durfte man Sassner nichts berichten. Nur angeln tat er.
Und jetzt tötete er Menschen. Schlich durch die Nacht und suchte sich die Opfer wie eine Raubkatze.
War das noch Gerd Sassner?
Luise zog den Kopf zurück. Vor ihr, in dem weißen Kombiwagen, rührte sich noch immer nichts. Es war, als warte der Fahrer, was hinter ihm geschah.
Gerd Sassner saß hinter seinem Lenkrad und beobachtete den kleinen Sportwagen durch den Rückspiegel. Dann drehte er sich um, kniete sich auf die Polsterbank und sah durch das breite Fenster der hinteren Tür auf den Rastplatz.
Der zierliche Wagen mit dem blonden Frauenkopf hinter der Windschutzscheibe gefiel ihm. Aber der silbergraue, im Dunkeln wie ein Tier lauernde Porsche beunruhigte ihn. Er konnte nicht sagen, warum … Es war sein Instinkt, der ihm signalisierte: Dort ist Gefahr. Ein Mensch, der einen Porsche fährt, hat es nicht nötig, auf einem Rastplatz zu schlafen. Er hält höchstens, um eine Zigarette zu rauchen, einen Schluck aus einer Thermosflasche zu nehmen, auszusteigen, um sich die Beine etwas zu vertreten.
Warum steht er so dunkel am Waldrand? Hingeduckt, sprungbereit …
Sassner lächelte mokant. Ein Kollege vielleicht? Sollen wir uns um das hübsche Frauchen streiten, das in unserer Mitte steht? Welch ein Irrtum, Herr Kollege! Ein großer Geist wie ich, der die Menschheit verändern will, der Dummheit und Engstirnigkeit aus den dumpfen Hirnen nimmt, lehnt es ab, sich mit einem kleinen, billigen Abenteurer oder gar Mörder zu messen.
Er wartete und beobachtete weiter die beiden Wagen. Das Vorbeidonnern eines Sattelschleppers mit dicken Stahlröhren nutzte er aus, schlüpfte schnell aus dem Auto und warf sich seitlich in das Gras unter die Bäume. Hier, im Schutz der Finsternis, rannte er geduckt weiter, von Stamm zu Stamm, auf Zehenspitzen, lautlos fast, jede Deckung ausnutzend.
Es geht noch, dachte er glücklich. Wie haben wir das geübt, schweißtriefend, bis zum Umfallen. Truppenübungsplatz Wahner Heide. Kusselgelände. Im nebeligen Morgenlicht das von tausenden Granaten zerfetzte Zieldorf, nun besetzt von einer Panzereinheit.
Unsere Kompanie war aufgeteilt in einzelne Kampftrupps. Wir schleppten Hafthohlladungen mit, geballte Ladungen aus zusammengebundenen Handgranaten, Panzerfäuste und leichte Minenwerfer.
»Wenn um zehn Uhr das Dorf nicht erobert ist und die Panzer Schrott sind, dann dampft euch bis nächsten Sonntag der Arsch!« hatte der Kompaniechef zum Abschied gesagt, ehe die kleinen Kampfgruppen abzogen und im Kusselgelände verschwanden wie Wühlmäuse. Dann war man allein. Sechs Mann mit zwei Hafthohlladungen. Drüben im Dorf und in den Falten des Geländes warteten die Panzer. Nebelschwaden überzogen die Wahner Heide, die Sonne schwamm in Milch. Ab und zu tauchten Reiter auf, mit weißen Armbinden und weißen Fähnchen. Die Kampfrichter, die bestimmten, welche Gruppe ›tot‹ war.
Damals hatte die Gruppe Sassner zusammen mit zwei anderen Gruppen das Zieldorf erreicht. Neun Panzer hatten sie vernichtet. Auf der höchsten Stelle des Zieldorfes, einem einsam stehenden Fabrikkamin, hißten sie die Fahne. Schmitz VI, Gefreiter aus Köln, war an den Steigeisen des Kamins hochgeklettert. Hinterher stellte sich heraus, daß Schmitz VI bei der Musterung nicht zu den Pionieren gekommen war, weil er leicht schwindelig wurde.
So sehr kann Begeisterung den Menschen verändern.
Auch Sassner spürte etwas von dieser Begeisterung, als er von Baum zu Baum huschte und sich an die beiden Wagen heranschlich. So etwas verlernt man nicht, dachte er immer wieder. Ich hasse das Militär, beim Anblick einer Uniform bekomme ich Hautjucken, so allergisch bin ich dagegen; sehe ich eine marschierende, singende Kolonne, möchte ich mich in den Weg stellen und den Jungen entgegenschreien: »Halt! Werft die Klamotten weg, Jungs! Was singt ihr da? … und trifft uns die Kugel, und sind wir tot, es lebt doch das Vaterland … Warum zeigt man euch nicht die Bilder der zerfetzten, verfaulten, im Eis erstarrten, vom Schneesturm zugewehten Toten von Stalingrad? Warum blickt ihr vorbei, wenn ihr die napalmverbrannten Frauen und
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