Das Schloß der blauen Vögel
Boden atmete Sommerwärme aus, und doch fröstelte man. Der leichte Wind war kalt.
Luise Sassner steckte sich eine Zigarette an. Im Rückspiegel sah sie, wie Dr. Keller auf den Platz fuhr und sich – ohne Lichter – tief in den Schatten der Bäume stellte.
Das beruhigte sie. Der Druck im Hals ließ nach, das Beben der Hände verging.
0 Uhr 17. Gerd Sassner fuhr langsam die Autobahn hinunter. Er war allein. Ilse Trapps war im Schloß der blauen Vögel geblieben. Sie hatte Magenschmerzen. Um zu vermeiden, daß sie auf dumme Gedanken kam, hatte Sassner sie in einem der Patientenbetten angebunden.
0 Uhr 20. Luise Sassner hatte die Zigarette zu Ende geraucht. Mit einer Taschenlampe gab sie durch das Rückfenster Blinkzeichen: Soll ich weiterfahren?
Aus dem kaum sichtbaren Porsche antwortete ihr ein kurzer roter Punkt: Noch warten!
Sie lehnte sich zurück und sah mit klopfendem Herzen auf die fast leere Autobahn. Niemand bog auf den Rastplatz ein.
0 Uhr 23. Gerd Sassner näherte sich Herbolzheim. Noch drei Kilometer trennten ihn von Luise. Nur noch ein Rastplatz …
Als der weiße Kombiwagen langsam von der Autobahn abbog und zwischen den hohen Bäumen ausrollte, hatte Luise Sassner gerade die dritte Zigarette angezündet. Sie blies sofort das noch flammende Zündholz aus, lehnte sich zurück, stemmte die Knie gegen das Armaturenbrett, als erwarte sie einen Aufprall, und zerdrückte die Glut auf dem Abstreifrost des Autoaschenbechers. Ihre Hände zitterten vor Angst.
Dr. Keller drehte in seinem unbeleuchteten Porsche den Zündschlüssel auf Start. Sassner, das wußte er, war ihm körperlich überlegen. Es hatte also keinen Sinn, sich auf einen Zweikampf einzulassen. Man konnte nur versuchen, Sassner durch einen Anruf zu erschrecken, ihn zur Flucht zu treiben und dann hinterher zu rasen. Was dann weiter geschehen sollte, das wußte Dr. Keller nicht. Auch die wildeste Verfolgungsjagd endet einmal – das war die einzige Hoffnung.
Um allen unvorhergesehenen Möglichkeiten aus dem Weg zu gehen, legte Dr. Keller den zusammengeklappten Wagenheber neben sich. Er war eine Waffe im Notfall. Die Reaktionen der Geisteskranken sind nicht im voraus berechenbar.
Der weiße Kombiwagen rollte an Luises kleinem Sportwagen vorbei bis nahe zur Ausfahrt des Rastplatzes. Dort löschte der Fahrer das Licht. Dunkel, ein Schatten nur, ab und zu von den Scheinwerfern der auf der Autobahn vorbeijagenden Wagen wie von zuckenden Blitzen beleuchtet, stand er unter den Bäumen.
Niemand stieg aus. Nichts rührte sich.
Luise Sassners Nerven flimmerten. Sie hatte das Gefühl, ersticken zu müssen. Das Herz hämmerte gegen die Rippen, das Blut jagte durch die Adern.
Luft, mein Gott – Luft … dachte sie. Ich schreie, wenn ich den Himmel nicht sehen kann, wenn ich hier weiter eingesperrt bleibe in dem kleinen, engen Kasten aus Blech. Das ist ja ein Sarg … ein Sarg … ein …
Sie kurbelte das Seitenfenster herunter und steckte den Kopf ins Freie. Auszusteigen wagte sie nicht; aber die frische Luft, die sie jetzt mit tiefen Atemzügen einsog, tat gut – und vor allem der Anblick des Nachthimmels, die Geräusche auf der Autobahn, das leise Rauschen der Bäume, der Duft nach nachtfeuchter Erde.
Sie drehte den Kopf nach hinten. Der Porsche wartete.
Ruhe, nur Ruhe, sagte sich Luise Sassner. Wenn es Gerd ist, wird alles nicht so schlimm sein. Er wird an das Auto herantreten, ich werde ihn anlächeln und zu ihm sagen: »Guten Abend, Liebling. Komm, steig ein. Wir haben so lange auf dich gewartet. Dorle und Andreas sind ganz unglücklich.« Und Gerd wird einsteigen, und wir werden nach Stuttgart fahren, in unser Haus. Er wird schlafen, ich werde bei ihm sitzen und seine Hände halten, und am nächsten Morgen …
Ja, was wird am nächsten Morgen sein? Da wird ihn die Polizei abholen, in eine Zelle sperren und als Mörder behandeln. Er hat eine Frau getötet und drei Menschen verstümmelt … Gerd Sassner, der eine große Jagd besaß, aber noch nie ein Tier geschossen hatte; der in der Morgendämmerung auf dem Hochsitz hockte und die Rehe und Hirsche beobachtete, wie sie im Frühnebel aus dem Wald traten und langsam äsend über die Wiese zogen, und dieses Bild des Friedens fotografierte. »Das sind meine einzigen Schüsse, die mit der Kamera«, hatte er immer gesagt, wenn der Jagdhüter ihn anflehte, wenigstens die kranken Böcke zu schießen. »Ich sehe ein, das muß sein«, sagte er dann. »Ihr nennt es hegen, das Revier reinhalten … ich
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