Das Schloß der blauen Vögel
alle lieben, dachte er. Oder ob sie in mir den Tyrannen sehen? Ihre Gesichter sind ausdruckslos, uniform wie ihre weißen Kittel. Warum gähnt zwischen ihnen und mir ein so tiefer Abgrund? »Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe«, sagte er knapp. »Sind Anzeichen vorhanden, daß Wachsner bereits Patienten gespritzt hatte, ehe Doktor Kamphusen ihn entdeckte?«
»Noch nicht, Herr Professor«, antwortete Kamphusen für die Ärzte.
»Dann an die Arbeit, meine Herren! Untersuchen Sie Ihre Kranken genau, vor allem nach frischen Einstichen. Jede Entdeckung mir sofort melden. Ich bin in meinem Zimmer. Doktor Kamphusen!«
»Herr Professor?«
»Bringen Sie Poldi zu mir. Aber bitte vernehmungsfähig. In Ihnen ist ja ein Berserker erwacht …«
Zehn Minuten später stand Leopold Wachsner im Chefzimmer. Zwei Krankenpflegerkollegen hatten ihn begleitet wie einen echten Tobsüchtigen.
Dorian saß hinter seinem breiten Schreibtisch mit der ›schöpferischen Unordnung‹, wie er das Durcheinander von Papieren, Zeitungen, Fachzeitschriften und Röntgenplatten nannte, und musterte Poldi eine ganze Weile stumm und über die Brillengläser hinweg. Angela saß im Hintergrund vor einem Tonbandgerät. Dr. Kamphusen, der mitgekommen war, setzte sich auf einen Stuhl in der anderen Zimmerecke.
»Poldi …« sagte Dorian endlich. Seine Stimme war weich.
Wachsner zuckte zusammen. Er hatte einen Anpfiff erwartet; die fast traurige Stimme warf ihn um.
»Herr Professor«, antwortete er gepreßt.
»Wie lange sind Sie jetzt bei mir?«
»Über vier Jahre.«
»Vier Jahre … immer fleißig, immer zuverlässig, immer für die Kranken da … Und nun so etwas! Poldi, was ist los?«
Wachsner schluckte. Er hätte heulen können. Gegen das Gebrüll eines Löwen hätte er sich gewehrt … gegen Dorians Traurigkeit war er hilflos. Sie zerriß sein Herz.
»Es ist nun mal geschehen, Herr Professor«, sagte er stockend.
»Warum? Sie müssen doch einen Grund gehabt haben.«
Wachsner schwieg. Dann brach es plötzlich aus ihm heraus.
»Ich bin ein Schwein, Herr Professor, ich weiß es! Es gibt keine Entschuldigung. Aber ich brauchte Geld …«
»Geld!« Dorian lehnte sich zurück. »Warum sind Sie nicht zu mir gekommen?«
»Zu Ihnen! Als ob Sie Zeit hätten, sich um die Nöte Ihrer Mitarbeiter zu kümmern! Sie hätten mir das Geld auch nie gegeben, dazu sind Sie zu korrekt.« Wachsner sah auf seine Hände. »Ich habe gespielt. In der Spielbank. Dann kam ich in einen Privatclub, wo auch gespielt wurde. Und dann war da ein Mädchen … da bin ich 'reingerasselt … Sie bekam ein Kind, mich machten sie zum Vater, obwohl ich weiß, daß mehrere Männer aus unserem Club … Aber die Blutgruppe stimmte, ein erbbiologisches Gutachten war auch gegen mich … ich muß zahlen! Dazu die Spielschulden … ich war am Ende! Sollte ich damit zu Ihnen kommen?«
Dorian schwieg. Sie haben kein Vertrauen zu mir, dachte er bitter. Ich bin ihr Chef, weiter nichts. Der strenge Zeus. Der Göttervater der Medizin. Der Donnerer aus den Wolken. Ich spreche zu ihren Hirnen, nicht zu ihren Herzen.
»Und plötzlich konnte ich Geld bekommen. Viel Geld. Aus allen Schulden konnte ich herauskommen. Ich brauchte bloß die Kranken unruhig werden zu lassen. Man verlangte von mir, Panik in die Klinik zu bringen.«
»Und Sie wurden zum Judas!« sagte Dorian sanft.
»Ich hatte keinen anderen Ausweg!« Wachsner begann zu schwitzen. »Mir stand es bis zum Hals! Ich ertrank in Schulden. Was sollte ich tun? Ich nahm das Mittel, das sie mir gaben, und injizierte es den Kranken, die besonders anfällig waren.«
»Und warum nannten Sie sich Doktor Keller?« rief Angela aus dem Hintergrund.
Wachsner fuhr herum. »Das wurde auch verlangt. Panik unter den Kranken, Zerstörung des Vertrauensverhältnisses zwischen Doktor Keller und dem Herrn Professor.«
»Sie wollten mich also vernichten?«
»Nicht ich … meine Auftraggeber.«
Wachsner keuchte vor Erregung. Dorian blieb ruhig und faltete die Hände vor den Augen.
»Wer?« fragte er kurz.
Wachsner schluckte krampfhaft. Aber er schwieg.
»Sie wollen es mir nicht sagen, Poldi?«
»Nein, Herr Professor.«
»Und wenn ich Sie der Polizei übergebe?«
»Auch dann nicht! Nächste Woche sollen meine Schulden bezahlt werden …«
Dorian schob die Brille höher auf seine Nase. »Ich bezahle Ihnen alles! Ich kaufe Ihnen den Namen für jede Summe ab. Um zu wissen, wer auf diese Art mein Werk vernichten will, ist mir jede Summe
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