Das Schloß der blauen Vögel
ich bloß? dachte er und faßte sich mit beiden Händen an den Kopf. Himmel noch mal, das ist ja wie auf der Geisterbahn. Es fehlen nur noch ein paar Gerippe, die aus den Ecken zucken, die Mäuler zum Grinsen öffnen und schauerlich röcheln.
Er preßte die Hände fest gegen die Schläfen. In seinem Kopf rumorte es. Wie ein Sägen und Bohren war es, wie ein Gären und Blasenwerfen. Ab und zu stach es bis unter die Kopfhaut; dann begann es vor seinen Augen zu flimmern, die Welt löste sich in winzige Punkte auf, wie Raster einer Autotypie. Dann wurde alles wieder klar, aber irgendwie unwirklich. Die Welt verwandelte sich zu einem Guckkastenbild, und er, Gerd Sassner, saß davor und sah es an wie aus dem Parkettsessel der Ewigkeit.
»Luise!« sagte er laut. »Mein Gott, wo bist du, Luise?«
Schwindel ergriff ihn, wirbelte ihn um die Achse. Ächzend, seinen Kopf umklammernd, drehte er sich wie in einer wilden Pirouette. Dann fiel er hin, rollte unter einen der staubigen Tische und blieb dort eine Weile liegen, wie gelähmt, mit pfeifendem Atem.
Als er wieder zu sich kam, als sein Hirn wieder Gedanken produzierte, stand er vor dem Garagentor und klappte die beiden großen Holzflügel zur Seite. Oben hing Ilse Trapps im Fenster, nackt wie sie war.
»Was soll das?« rief sie. »Wo willst du hin? Ich denke, du holst Orangensaft. Du bist heute reichlich merkwürdig, Süßer.«
Sassner sah hinauf und zögerte. Der weiße, nackte Körper im Sonnenlicht zog ihn magisch an: Etwas Magnetisches strahlte von ihm aus. Er spürte es im Herzen; es schlug hart gegen den Brustkorb.
»Ich muß einen Patienten besuchen«, sagte Sassner ernst. »Bereiten Sie alles im OP vor, Schwester Teufelchen. Es wird ein schwerer Eingriff werden. Ich habe die Vögel beobachtet … das Geheimnis, warum sie fliegen können, ist gelöst. Ihr Körper ist leichter als die Luftverdrängung der Flügel. Sie heben sich empor in die Luft, indem sie sich empordrücken, denn die Luft wird für sie zur festen Masse, eben weil ihr Körper leicht und die Verdrängung durch die Flügel stärker ist. Unter diesen Umständen kann auch der Mensch fliegen … er ist nur zu schwer. Er schleppt zuviel Ballast mit sich herum. Das ist das ganze Geheimnis. Wenn man den Menschen erleichtert, kann er mit seinen Armen fliegen. Wir werden es beweisen, Schwester Teufelchen … bereiten Sie alles vor. Ich hole schnell den Patienten ab, der aus eigener Kraft fliegen möchte …«
Er setzte sich in den weißen Kombiwagen, fuhr aus der Garage und sah im Rückspiegel, wie Ilse Trapps sich aus dem Fenster lehnte, mit beiden Armen ruderte und ihm etwas zuschrie. Ihr rotes Haar umflatterte den weißen, üppigen Körper wie zerfetzte Schleier.
Sassner gab Gas und entfernte sich schnell über die enge Landstraße, die auf die Zubringerchaussee zur Autobahn mündete.
Das Mädchen war jung, siebzehn Jahre alt, und pflückte Blumen.
Sie war blond, hatte ein kurzes Kleidchen an, bunt, mit Blumen und Blättern bedruckt, weiße Schuhe und hatte blanke, gebräunte Beine. Das Fahrrad, mit dem sie gekommen war, lehnte an einer dicken Birke. Das Mädchen kam aus der Schule, hatte die letzten beiden Stunden frei, weil die Lehrer eine Konferenz abhielten, und hatte einen Umweg zur Autobahn gemacht, weil dort, auf dem Rastplatz hinter dem Wäldchen, das die Autobahn verbarg, auf einer Wiese die schönsten Herbstblumen blühten.
Das Mädchen kannte diese Gegend. Sie wohnte drei Kilometer weiter südlich in dem Dorf Ettenheim und besuchte die Handelsschule in Emmendingen. Im Winter fuhr sie mit dem Omnibus zur Schule, im Sommer benutzte sie ihr Rad, auf das sie so stolz war. Das Rad hatte Dreigangschaltung, war goldfarben lackiert und besaß blitzende Chromfelgen.
Das Mädchen hatte diese Wiese hinter dem Wäldchen oft besucht. Sie gehörte zu den geheimen Stellen, wo sie ab und zu Kurt Schumacher traf, den Schmiedsohn aus Kattweiler. Dann saßen sie unter den Birken am Waldrand und sprachen lauter dummes Zeug, wie es junge Menschen tun, die zum erstenmal ihr schwer werdendes Herz spüren und sich schämen, von der Liebe zu reden. Aber es waren dennoch glückliche Stunden. Man war allein, sah in den blauen Himmel, atmete den Duft der Blumen und gab sich den ersten scheuen Kuß.
Das Mädchen hatte schon einen Arm voll Blumen gepflückt und wollte zurück zum Fahrrad, als aus dem Wald ein Mann trat. Es war ein älterer Mann mit Stoppelhaaren, ungebügelten Hosen, offenem weißem Hemd und
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