Das Schloß der blauen Vögel
froh war ich, als ich dieses Haus sah. Und nun das! Geschlossen. Ich komme bestimmt nicht mehr bis zur nächsten Tankstelle. Das ist ja eine scheußlich einsame Gegend.«
Sassner trat aus dem Schatten heraus. Die junge Frau lehnte an ihrem Auto und zündete sich eine Zigarette an.
»Ich helfe Ihnen gern, gnädige Frau.« Sassners tiefe Stimme schien sie zu beruhigen. Sie lächelte zurück.
»Danke. Das ist nett von Ihnen. Sie schleppen mich ab?«
»Ich werde erst versuchen, in dieses Haus zu kommen.«
»Da ist niemand mehr. Lesen Sie das Schild an der Tür.«
»Man soll nie aufgeben, an Zufälle zu glauben.« Sassner ging zur Tür, die noch immer von den Scheinwerfern des kleinen Autos angestrahlt wurde. Er holte seinen Schlüsselbund aus der Tasche und steckte zunächst den Kellerschlüssel ins Schloß. Er paßte natürlich nicht. Dann probierte er den Turmschlüssel, den Geldschrankschlüssel, den Spirituosenschrankschlüssel. Er gab diese Komödie zum besten, um vorzutäuschen, er probiere aus, ob irgendein Schlüssel passe.
»Was machen Sie denn da?« fragte die junge Dame.
»Ein Statistiker hat einmal ausgerechnet, daß jeder zwanzigste Schlüssel in ein fremdes Schloß paßt. Vielleicht haben wir Glück, und einer meiner Schlüssel paßt hier.«
»Und dann? Wir können doch nicht einfach ein fremdes Haus betreten!«
»Wenn es verlassen ist, wird sich auch kein Besitzer finden, der sich beschwert. Wissen Sie, ich liebe Geheimnisse.« Sassner steckte nun den richtigen Schlüssel ins Schloß, tat so, als ob er ihn ins Schloß pressen müßte, schlug sogar mit der Faust dagegen und drehte dann um. Die Tür schwang auf. »Was sage ich … er paßt!« Er ging in den Vorraum, knipste das Licht an und trat wieder auf den Parkplatz.
»Sogar das Licht brennt noch! Bitte, treten Sie ein …«
Die Frau sah sich um. Aus dem Kombiwagen kletterte Ilse Trapps. Ihr Gesicht war böse und feindlich. »Komm zurück, Gerd!« rief sie.
»Ihr Mann hat Talent zum Einbrechen.« Die junge Frau lachte befreit. Als Sassner die Tür aufschloß, hatte sie plötzlich Angst gefühlt. So sympathisch die dunkle Stimme klang, sie war nicht darauf aus, ein nächtliches Abenteuer zu erleben. Nun sah sie die Frau und war wie erlöst. Ein Ehepaar ist ungefährlich.
»Die Wirtschaft sieht ganz gemütlich aus«, rief Sassner von der offenen Tür. »Ob Sie es glauben oder nicht … es stehen sogar noch Flaschen im Regal! Das habe ich noch nicht erlebt.« Er kam näher, groß, breit, Vertrauen einflößend. »Ich habe schon eine Reihe verlassener Dörfer durchstreift … im Tessin, auf Sardinien und Sizilien. Gefüllte Schnapsregale habe ich noch nirgends angetroffen.«
»Aha! Sie haben also Übung, in verlassene Häuser einzudringen?« Die junge Frau lachte wieder. Neugier trieb sie, einen Blick ins Haus zu werfen. Sie ging zur Tür und sah in die erleuchtete Gaststube.
»Da liegen ja sogar noch Decken auf den Tischen.«
»Wirklich?« Sassner winkte Ilse Trapps. Widerwillig kam sie zu ihm. Ihre grünen Augen blitzten.
»Sie gefällt dir wohl?« zischte sie. »Groß und schlank und was Besseres!«
»Halten Sie den Mund, Schwester Teufelchen!« Sassners Stimme wurde hart und kalt. »Gehen Sie durch den Hintereingang in die Klinik, ziehen Sie sich um und bereiten Sie den OP vor.«
»Was … was soll das?« stammelte Ilse. Sassners Augen nahmen ihr allen Widerstand.
»Unser erster Patient ist gekommen.« Sassner sah kurz zum Haus. Die junge Frau hatte die Gaststube betreten; was auf dem Parkplatz geschah, konnte sie nicht mehr hören. »Ein schwerer Fall«, sagte Sassner. »Haben Sie es nicht gehört, Schwester Teufelchen? Die Batterie ist gestört. Die Verbindung zwischen Hirn und Rückenmark ist unterbrochen. Die Impulse des Hirns werden nicht weitergegeben. Das ist schlimm, sehr schlimm! Wir müssen einen radikalen Eingriff machen, ehe die Batterie verbraucht ist.« Er umarmte Ilse Trapps plötzlich, riß sie an sich und küßte sie wild. Ebenso plötzlich ließ er sie los, sie taumelte wie betrunken und atmete stoßweise. »Geh!« sagte er. Seine Stimme wurde schneidend. »Ich bereite die Patientin schonend auf den Eingriff vor. Und keine weiteren Fragen!«
Während Ilse Trapps um das Haus herumrannte und die Hintertür aufschloß, schaltete Sassner die Scheinwerfer des fremden Wagens aus und betrat dann das Gastzimmer. Die fremde Frau stand mitten im Raum und sah sich kopfschüttelnd um.
»Es sieht alles so aus, als habe hier
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