Das Schloss der tausend Sünden
ausgemacht zu haben meinte. Wenn nun wirklich jemand in dem Gebäude wohnte? Jemand mit einem Telefon, der ihnen in ihrer Not helfen könnte?
Mit bloßen Füßen ging die junge Frau weiter, bis sie sich schließlich in einem Dschungel aus Blumen und Grünzeug wiederfand, der einmal der Garten gewesen sein musste. Wenn das Kloster wirklich von jemandem bewohnt war, musste es sich zweifellos um Leute handeln, die etwas von Gartenbau verstanden, denn in dem wirren und gleichzeitig überaus reizvollen Durcheinander wuchsen sowohl wilde als auch kultivierte Pflanzen und Blumen. Sie sah und roch Rosen, Rittersporn und Malven, aber auch gefährliche Pflanzen wie Tollkirschen.
Als sie an einem Kiesweg ankam, zog Belinda ihre Turnschuhewieder an und ging auf den Eingang des Klosters zu – ein massives, verwittertes Tor mit einem kleinen Vorbau. Gerade als sie eine Reihe von flachen Stufen erreichte, schwang die schwere, beschlagene Tür auf, und ein überaus attraktiver Mann begrüßte Belinda mit einem Lächeln.
«Äh … hallo», sagte sie völlig überrascht und war zu nichts weiter in der Lage, als dazustehen und den Fremden anzustarren. Der Mann sah bemerkenswert aus – ein riesiger gebräunter Gigant in Jeans und einer knappen weißen Weste. «Mein Freund und ich haben uns verirrt», brachte sie schließlich heraus. «Wir haben die Nacht in Ihrem Pavillon verbracht.» Sie zeigte mit dem Kopf über ihre Schulter zu dem entfernten weißen Gebäude. «Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen. Wir haben keine Unordnung gemacht.» Der großgewachsene Mann lächelte nur. «Ob … ob … ob Sie wohl ein Telefon haben, das wir benutzen könnten? Unser Auto ist liegengeblieben. Wir müssen eine Werkstatt anrufen, und die Akkus von unseren Handys sind leer. Wir sind mit jemandem verabredet und müssen dringend Bescheid geben, dass wir später kommen.»
Der Mann lächelte weiter und nickte ermutigend mit seinem kurzgeschnittenen Schopf.
Belinda war unwohl zumute. Wieso antwortete der Kerl nicht, sondern stand nur wie eine stumme, lebende Statue da?
«Ich kann den Anruf auch sofort bezahlen», bot die verwirrte Frau an. Doch dann fiel ihr ein, dass ihre Handtasche im Pavillon lag.
Diese Augen. Belinda kämpfte gegen ihre wachsende Verwirrtheit an und sah dem Fremden direkt in die Augen.
War dies der Mann, dessen Anwesenheit sie gestern Abend gespürt hatte? Etwas Mythisches hatte er auf jeden Fall an sich. Mit seinen ultrakurzen blonden Haaren sah eraus wie ein teutonischer Gott, der gerade in moderner Kleidung aus Walhall zurückgekehrt war.
Aber nach ein paar Sekunden wusste Belinda, dass dies nicht ihr nächtlicher Beobachter war. Seine Augen waren hellbraun und mild und sein Gesichtsausdruck trotz der Tatsache, dass er immer noch nicht mit ihr sprechen wollte, sanft und freundlich. Die Augen, die sie gestern gesehen zu haben glaubte, waren stechend blau gewesen. Sie hatten zwar nicht unbedingt heimtückisch gewirkt, aber doch eine Kraft besessen, die beängstigend und ehrfurchtgebietend war.
Der Mann in der Tür lächelte noch immer. Schließlich aber trat er einen Schritt zurück in die Eingangshalle und winkte Belinda mit einer Willkommensgeste hinein. Sie folgte ihm, wurde aber dennoch das Gefühl nicht los, einen großen Fehler zu begehen.
Die Halle, in der sie sich wiederfand, war kühl, ruhig, ziemlich dunkel und weitaus größer, als sie es sich vorgestellt hatte. Auch wenn man die Verbesserung durch das Tageslicht berücksichtigte, sah das Kloster von außen abgewrackt aus. Von innen aber wirkte es sehr gepflegt, ja fast prächtig. Alles war mit Eiche oder anderen edlen Hölzern getäfelt, deren Schnitzereien zusammen mit den Stuckornamenten hohe Bögen formten. An der Wand standen ein paar schwere, glänzende Möbelstücke, und in einigen Nischen hing eine ganze Reihe von düsteren Gemälden.
Ein Telefon jedoch war leider nirgendwo zu sehen.
«Haben Sie ein Telefon, das ich benutzen könnte?», wiederholte Belinda ihre Frage von vorhin, während der gebräunte Riese die Eingangstür hinter ihr schloss. Als sie sich schließlich zu ihm umdrehte, gab er die erste erkennbare Reaktion von sich: ein langsames Schütteln des Kopfes und ein weiteres, diesmal bedauerndes Lächeln. Er zuckte mitseinen gewaltigen Schultern und brachte damit seine strammen Muskeln zum Spielen.
Belinda bemühte sich verzweifelt, ihren Ärger zu unterdrücken. Wie um alles in der Welt konnte man hier mitten im Nirgendwo ohne
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